Nachmittag mit Mozart

Nachmittag mit Mozart
von Bernd Mai
(Eine Anton-Geschichte.)

Es ist Freitagabend und Anton hat zu tun. Er kocht. Am Samstag will Bettina kommen, und er hat ihr zum Mittagessen Spaghetti mit Sauce Bolognese versprochen. Er zerkleinert Suppengrün, schnippelt Zwiebeln und Knoblauch, und er öffnet eine Flasche Weißwein. Was sein muß, muß sein. Dann gibt er Öl in einen Topf, läßt es heiß werden und gibt Tomatenmark, das Hackfleisch und einen Teil des zerkleinerten Gemüses hinein. Das läßt er schmurgeln, bis das Hackfleisch krümelig geworden ist und löscht es mit einem guten Schuß Weißwein ab. Für sich selbst hat er auch einen guten Schluck übrig. Was sein muß, muß sein. Dann gibt er Brühe und den Rest des Gemüses, Zwiebeln und Knoblauch hinzu. Eine Büchse Schältomaten hat er schon geöffnet, auch die kommt hinein. Und jetzt würzen! Salz, Pfeffer, Oregano, Lorbeer, eine kleine Prise Chilipulver und eine gute Prise Zucker. Das mit dem Zucker hat er von seinem Bruder, dem Koch, und Anton ist immer dankbar für solche Tips. Nun rührt er das ganze gut durch und stellt die Herdplatte auf mittlere Hitze, der Topf ist ziemlich voll geworden. Später, wenn genug Wasser verdampft ist, wird er die Temperatur nachregeln. Im Topf beginnt es zu brodeln. Anton nickt zufrieden und gießt sich noch einen Wein ein. Und jetzt muß es zwei Stunden ohne Deckel köcheln. Anton will sich ins Wohnzimmer begeben, da klingelt das Telefon, Bettina ruft an.
„Denkst Du daran, daß wir am Sonntag nach Bad Lauchstädt wollen?“ fragt sie.
„Hä?“ Anton ist verwirrt. „Was wollen wir dort?“
Bettina schweigt. Da fällt es Anton wieder ein. Bettina hat Karten für eine Aufführung von Mozarts „Don Giovanni“ im Goethe-Theater bestellt. Die Vorstellung beginnt vierzehn Uhr dreißig.

Ein Jahr zuvor hatten sie einen Ausflug nach Bad Dürrenberg unternommen, um sich das Gradierwerk anzuschauen und um dort zu fotografieren. Auf dem Rückweg, sozusagen im Vorübergehen, hatten sie in Bad Lauchstädt Halt gemacht, und hatten dabei das bezaubernde Goethe-Theater entdeckt. Das historische Theater wurde unter tatkräftiger Mitwirkung Goethes gebaut und 1802 eröffnet. Goethe soll sich auch finanziell mit 1500 Talern, damals eine große Summe, beteiligt haben. Die Grundentwürfe für das Gebäude und die Entwürfe für die Bühnenmaschinerie sowie für die Innenausstattung stammen vom Geheimrat. Auch nach 200 Jahren funktioniert alles noch wie ehedem, und die Dürrenberger sind stolz auf ihr Theater. Nur, es ist winzig klein, es bietet nur 456 Zuschauern Platz. Bettina beschloß: „In diesem Theater werden wir irgendwann eine Aufführung sehen, irgendwann und irgendwas!“ Nun, jetzt war der Zeitpunkt klar, und das Stück auch. Mozart, gesungen auf italienisch. Eine Produktion des Theaters Magdeburg.

Es ist Sonntag, zehn Uhr dreißig, sie fahren los. Bettina liebt es, selbst zu fahren. Ihr Auto ist größer und stärker als Antons, aber nicht bequemer. Anton besteht auf diese Einschränkung. Nun ja, abgesehen von der Klimaanlage, vielleicht. Bettina liebt es auch, flott zu fahren, und Anton ist nicht immer wohl dabei. Sie benutzen die A 38, und sie sind nach vierzig Minuten an Ort und Stelle. Sie suchen sich einen Parkplatz, und Bettina will in einem Pavillion des historischen Kurparkes die Karten kaufen. Anton bleibt draußen, er will nicht wissen, was sie kosten. Dann suchen sie sich ein Restaurant außerhalb des Kurareals, aber sie müssen einsehen, daß es in einem kleinen Kurort kein „Außerhalb“ gibt. Sie finden ein kleines Hotel mit Restaurantbetrieb, und setzen sich in den Garten. Dort ist es angenehm schattig, eine leichte Brise streicht um die Tische. Bettina bestellt Steak au four mit Kartoffelspalten, und sie ist zufrieden. Anton bestellt ein Rostbrätel mit Bratkartoffeln. Eigentlich hätte er lieber Sülze mit Bratkartoffeln gehabt, aber wegen des gehobenen Anspruchs des Restaurants ist er mißtrauisch. Zu recht, wie sich zeigt, die Bratkartoffeln sind fettig und letsch, das Brätel findet er, nachdem er den riesigen Haufen gedünsteter Zwiebeln beiseite geräumt hat. Die Salatkomponenten haben nie ein Dressing gesehen, und der Geschmack der Zwiebeln überdeckt alle anderen Aromen. Nur das Brätel, das Brätel ist gut, und es versöhnt Anton mit dem Rest, und ein Glas Wernesgrüner rundet das Mahl ab. Der Eindruck wird aber durch ein ungenießbares Glas Tee wieder sehr getrübt. Anton läßt sich von Bettina ein Halsbonbon geben, um den Geschmack los zu werden. Aber Anton ist satt, und ein satter Mensch neigt zu Friedfertigkeit.

Sie haben Plätze auf der rechten Gallerie, und sie sitzen auf gepolsterten Stühlen. Die Zuschauer im Saal sitzen auf unbequemen Bänken, nur die Inhaber der Logen haben es richtig gut. Mit dem Blickfeld auf die Bühne ist Anton nicht zufrieden, dafür sitzt er unmittelbar über dem winzigen Orchestergraben, unter ihm üben sich die Bläser ein. Rechts neben ihm sind vier Plätze frei, und davor stehen ein paar Notenständer. Anton wird noch sehen, warum. Aber vor allem wird er es hören. Bettina hat ein Programm besorgt, und Anton versucht den Abschnitt „Die Handlung“ zu lesen. Nach zwei Absätzen läßt er es bleiben. Die Handlung ist ein furchtbares Durcheinander und derartig krude, daß sich Antons Literatengefieder streubt. Nun, das war im 18. Jahrhundert halt mode, denkt er, und er erinnert sich an eine andere Mozart-Oper, „Die Zauberflöte“, deren Handlungsstrang ihn genauso befremdet hatte. Was solls, das Wichtigste ist die Musik!

Die Oper beginnt! Klar, mit der Ouverture, und Anton beobachtet die Bläser, die mit Hingabe reichlich viel Lärm produzieren. Dann fallen die Streicher ein, und es wird noch lauter. Es ist heiß im Saal, und Anton, der aus Respekt vor Mozart und den Künstlern ein Sakko angezogen hat, zieht es aus und legt es auf eine leere Bank hinter sich. Die Musiker tragen schwarze Hemden und leichte Blusen, und überhaupt herrscht eine familiäre Atmosphäre. Unter Anton sitzt eine schlanke Klarinettistin mittleren Alters. Anton sieht sie schräg von hinten, ihr Gesicht kann er nur erahnen, und der anmutige Schwung ihres bloßen Nackens, um den sich das Trageband des Instrumentes windet, bezaubert ihn. Ihr schwarzes Haar trägt sie halblang, und es wölbt sich wie ein natürlicher Helm über ihrem Kopf. Ihre schlanken Finger gleiten wie spielerisch über die Tasten der Klarinette, und Anton muß seine Phantasie zügeln. Die Ouverture ist zu Ende, und der Vorhang geht hoch.

Das Spiel beginnt mit einer versuchten Vergewaltigung, einem Mord und einem Racheschwur. Die Sänger singen italienisch. Das Libretto stammt von einem Italiener namens Lorenzo da Ponte, und eine deutsche Übersetzung wird mit einem Bildwerfer auf ein neutrales Wandstück rechts neben der Bühne projiziert. Anton muß sich immer mal den Hals verrenken, wenn er an wichtigen Stellen den Text lesen will. Es wird gelogen und betrogen, ein bäuerlicher Mob wird organisiert, es wird verführt und kopuliert, gesoffen und gefressen, und der arme Leporello, der Diener Don Giovannis, wird nicht nur einmal von seinem eigenen Arbeitgeber dem Mob ausgeliefert und verraten, sondern auch immer wieder korrumpiert. Am Ende sind – außer Diebstahl und Raub – so ziemlich alle strafrechtlich relevanten Verbrechen, und auch die nicht relevanten, in der Oper vorgekommen. Aber auch eine Portion Gesellschaftskritik, die Uraufführung fand kurz vor der Großen Französischen Revolution statt.

Anton ist kein Musikkenner, aber er hört, daß es gut ist. Er läßt sich von Mozarts Musik fesseln, und die Handlung erlebt er so nebenbei als hochdramatisch, besonders im zweiten Akt. Dem ruchlosen Don Giovanni soll der Garaus gemacht werden, aber er entkommt, sein Diener Leporello auch. Sie finden sich auf dem Friedhof wieder. Aus einer Statue spricht der Komtur, den Giovanni zu Beginn ermordete, zu ihm, und empfielt ihm Reue und Umkehr. Giovanni lacht ihn aus, und er lädt die Statue aus Übermut zu einem Festessen ein. Kurz bevor die Statue zu sprechen – also zu singen – beginnt, kommen aus dem Bühnenraum drei Musiker mit Posaunen auf die Gallerie geklettert. Nachdem sie ihre Noten an den Ständern befestigt haben, nehmen sie auf der freien Bank neben Anton Platz. Sie waren leise wie die Mäuschen, und Anton hat sie erst bemerkt, als der erste von ihnen am Notenständer herumzufummeln begann. Anton ahnt schlimmes. Und wirklich, der Gesang der Statue wird vom Spiel der Posaunisten eingeleitet, begleitet und beendet. Einen Meter neben Antons rechtem Ohr spielt der Musiker mit der größten Posaune. Aber die Szene dauert nicht lange. Die Posaunisten knipsen das Licht an ihren Notenständern aus und sie bleiben sitzen.

Auf der Bühne geht das Spiel weiter. Die folgenden Szenen sind nicht sehr bewegend, und Anton lugt ab und an zu der bezaubernden Klarinettistin hinunter. Sie hat gerade Pause und räkelt sich. Dann reibt sie mit der rechten Hand den zarten Nacken und bewegt den Kopf ein paarmal hin und her. Als sie sich nach links dreht, sieht Anton, daß sie in Wahrheit ein hübscher junger Mann ist, der kein schwarzes Hemd, sondern ein schwarzes T-Shirt trägt. Bevor sich ihre Blicke treffen schaut Anton weg.

Dann kommt der Showdown. Die Statue – der „Steinerne Gast“ – ist tatsächlich zu Don Giovannis Festmahl gekommen. Die Posaunisten blasen wie die himmlischen Heerscharen. Der Steinerne Gast fordert Giovanni noch einmal zur Umkehr auf. Aber der will nicht, und obwohl er erkennt, daß er sterben wird, betont er ausdrücklich, daß er nichts bereut und alles noch einmal so machen würde. Mit viel Bühnendonner und Pyrotechnik stößt ihn der Steinerne in die Bühnenversenkung, also in die Hölle. Leporello sitzt unter dem Tisch und scheißt sich ein. Der Steinerne Gast hat seine Schuldigkeit getan, er geht. Dann kommt noch ein Abgesang der fünf Figuren, die Giovannis Tod mit mehr oder weniger Überzeugung betrieben haben. Das Opfer der Beinahe-Vergewaltigung: das hat ihn aus zwei Gründen wirklich und blind gehaßt. Der Bräutigam des Opfers, der den Vater rächen sollte: aber der hat mehr Angst als Vaterlandsliebe. Der bäuerliche Bräutigam, den er durch die Wahrnehmung des Rechtes der Ersten Nacht zum Affen machte: aber der ist ein ehrpusseliger Spießer. Die bäuerliche Braut, die er zwar nicht bekam, die aber dem scheinbar Versäumten nachweint. Seine betrogene Geliebte, die ihn gehaßt, aber auch geliebt hat, geht ins Kloster. Die liebenden Paare kriegen sich. Nur Leporello, das arme Schwein, der korrumpierte Proletarier, geht aufs Arbeitsamt, und das ist zu jener Zeit ein Wirtshaus, wo er einen neuen Herrn zu finden hofft. Aber zunächst mal ein paar Pinten Schnaps, stellt sich Anton vor.

Das Publikum tobt. Anton ist aufgesprungen, er ist nicht der einzige, und klatscht wie verrückt. Bravo-Rufe sind zu hören. Anton ist den Künstlern auf der Bühne so nahe, daß er jeden Schweißtropfen sehen kann. Sie strahlen nach jeder neuen Verbeugung ein Quentchen mehr. Anton bedauert den Darsteller des Komturs, der noch das Kostüm des Steinernen Gastes trägt. Es dauert viele Minuten, bis sich die Künstler nicht mehr zeigen müssen. Einer der Posaunisten ist sitzen geblieben und verfolgt den Jubel von der Gallerie aus. Er wirkt sehr zufrieden. Anton beugt sich zu ihm und sagt: „Klasse, das habt Ihr gut gemacht!“ Der Musiker lächelt und nickt huldvoll, und Anton versteht zum ersten Mal in seinem Leben den Spruch „Der Beifall ist das Brot des Künstlers.“ richtig.
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Anmerkungen:

Antons Sauce Bolognese war ein Knaller!

Rostbrätel: Thüringische Spezialität, kurz gebratenes Nackensteak vom Schwein

Steak au four: Schweinesteak mit Würzfleisch (Ragout fin) bedeckt und mit Käse überbacken

Wernesgrüner: beliebte Biermarke aus Antons Heimat

Die Handlung: Da Pontes Handlung basiert auf ein Stück von Tirso de Molinas von 1624, der Stoff ist aber noch älter; er gehörte zu den beliebtesten Stoffen des europäischen Volkstheaters; eine Mischung aus praller Posse und moralisierendem Welttheater mit viel Klamauk und spektakulären Bühneneffekten.
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© Juli 2011

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