Bücherei – Heute: Teil 7, in dem wir zum dramatischen Fach wechseln

Mindestens ebensogut kann ich mich an die Lese-Phase „Sagen“ erinnern, schon deshalb, weil sie Nachwirkungen bis heute hat. Erst kürzlich (d. i. 80er Jahre, d. A.) erstand ich zwei Bände klassischer griechischer Sagen, herausgegeben von Johannes Bobrowski. Mit den germanischen Heldensagen konnte ich nicht viel anfangen. Natürlich kannte ich die Siegfried-Sage, die Sagen um Dietrich von Bern und so weiter, und die sogenannten Heimatsagen waren mir zu hausbacken. Das bekannte Buch von Gustav Schwab dagegen ist für mich ein literarisches Schlüsselerlebnis gewesen. Später folgten andere, stärkere, aber es war wohl prägend für mein kindliches Gemüt. In der Bibliothek gab es damals eine besonders schöne dreibändige Ausgabe vom Kinderbuchverlag. Die Illustrationen waren klassischen Vorbildern nachempfunden, und bevor ich lesen konnte – mein älterer Bruder hatte sie sich ausgeliehen – machten sie mich neugierig auf diese Bücher. Ich bewunderte die Griechen, besonders Odysseus wegen seiner Cleverneß (Auch er muß ein „Leser“ gewesen sein, und daß er zunächst nicht an dem dubiosen Feldzug teilnehmen wollte, hätte mir zu denken geben müssen.), und ich verachtete die Trojaner. Paris hielt ich für ein Ausbund an Feigheit – man vergreift sich doch nicht an fremden Frauen! Ich war noch sehr jung, und bei Schwab konnte man nicht lesen, wo der Hund begraben liegt. Erst später, als ich in unserem „Theater der Jungen Welt“ das Stück „Die Trojaner“ sah, das wenig mit der griechischen Mythologie zu tun hatte, ging mir ein Licht auf …

Meine erste Klassenlehrerin war Frau Zimmermann. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, sie eine schöne Frau zu nennen, aber heute weiß ich, daß sie eine blasse, rotblonde Schönheit war mit einem zarten Körperbau und mit lustigen Sommersprossen im Gesicht, immer quicklebendig und voller Ideen, und wenn ich an meine Schulzeit denke, dann denke ich auch immer an Frau Zimmermann. Sie hat meine Liebe zu den Büchern immer gefördert, und sie war meine Klassenlehrerin bis zur dritten Klasse. Dann verlor ich sie ein wenig aus den Augen. Als ich in der sechsten oder siebenten Klasse war, leitete sie den Laienspielzirkel unserer Schule, dessen Mitglied ich wurde. Wir spielten Weihnachtsmärchen und politisches Kabarett, und wir „umrahmten“ Elternveranstaltungen. Meine Eltern waren stolz wie die Spanier, wenn ihr sonst so unauffälliger „mittelster“ Sohn sich auf der Bühne der Aula herumquälte, weil er wieder mal den Text nicht richtig gelernt hatte. Wir traten vor Schulkindern und Rentnern auf, zu Betriebsweihnachtsfeiern für die Kinder der Belegschaften irgendwelcher Betriebe, bei den sogenannten Volkswahlen und zu allen möglichen anderen Festlichkeiten. Manchmal wurden wir mit einem Bus ins Leipziger Umland kutschiert. Betriebsweihnachtsfeiern fand ich in Ordnung, weil dabei außer einem feuchten Händedruck auch immer Kakao und Stollen und ein Bunter Teller abfielen. Den größten Erfolg feierten wir mit dem Stück „Schneeweißchen und Rosenrot“ nach dem bekannten Märchen. Ich spielte den bösen Zwerg, und meine Partnerin Angelika Sander, die das Schneeweißchen spielte, mußte ständig meinen dreistufig konstruierten Bart aus Pelzresten kürzen. Einmal, es war auf der Kinderweihnachtsfeier einer LPG, fand sie die Sicherheitsnadeln nicht, mit denen er zusammengehalten wurde, oder sie konnte sie bloß nicht öffnen. Zur Sicherheit hatte sie immer eine Nagelschere dabei, aber bis sie die Schere gefunden und die Pelzreste zertrennt hatte, und das dauerte ein Weilchen, improvisierte ich wie der Teufel um die Zeit zu überbrücken. Mein lautes Geschimpfe, Gekreische und Gezeter brachte die Kinder im Saal zum Toben, und es gab Beifall auf offener Szene. Was für ein Erfolg! Frau Zimmermann kriegte sich vor Freude nach der Vorstellung gar nicht wieder ein. In der neunten und zehnten Klasse war sie wieder meine Lehrerin für Literatur, und meinen Aufsatz zur Abschlußprüfung habe ich im Stillen ihr gewidmet. Viele Jahre später, ich war bereits Vater meiner Kinder und meine Ehe lief schlecht,  begegnete ich ihr in der Unterführung vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Und noch ehe ich sie bemerkte, sprach sie mich an. Ich war schlechter Laune, irgendeine Besorgung war zu erledigen und ich hatte es eilig, und ich fühlte mich sowieso wegen meiner persönlichen Lage rundum unwohl. Sie strahlte über das ganze Gesicht, und in ihrer lebhaften Art wünschte sie Auskunft über meine Familie, mein Leben und meine berufliche Situation. Mir aber war die Begegnung eher lästig, und ich fertigte sie mit ein paar nichtssagenden Worten ab. Ich verabschiedete mich hastig, und dann rannte ich die Treppe zur Haltestelle der Straßenbahn hinauf. Auf der vorletzten Stufe stolperte ich. Ich konnte mich nicht abfangen, und ich stürzte. Ich knallte mit dem linken Schienbein gegen die Kante der obersten Stufe, und der Schmerz nahm mir den Atem und trieb mir Tränen in die Augen. Ich rappelte mich auf, und als ich mich umsah, sah ich Frau Zimmermann fassungslos und mit offenem Mund und mit aufgerissenen Augen am Fuße der Treppe stehen. Meine Straßenbahn kam, und unter Schmerzen lief ich los, um sie nicht zu verpassen.

(Forts. folgt)

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Bücherei – Heute: Teil 6, in dem es philosophisch wird

Und damit sind wir bei einem Gegenstand, der mich Zeit meines Leserlebens bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter hinein beschäftigte, und der mir so manchen Verdruß bereitete. Ich meine die Einsamkeit des Lesers. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers kennt man, nun gut, und Insider wissen um die Einsamkeit des Autors. Aber die Einsamkeit des Lesers? Ich will versuchen, zu erklären. Die Lektüre eines Buches ist, im Gegensatz zum Konsum anderer Medien, keine Sache, die man im Augenblick der Rezeption mit anderen Menschen teilen kann. Dabei denke ich vor allem an Theateraufführungen und Konzerte, an die Tausenden von Menschen bei den Rockevents in den Stadien, und selbst in einer Bildergalerie ist man nie allein. Radio hören und fernsehen kann man zwar auch ganz für sich, aber ich kenne Familien, da spielt sich die Abendunterhaltung vor dem laufenden Fernsehgerät ab, als wäre es das Lagerfeuer. Keiner interessiert sich dafür, aber wenn es ausgeschaltet ist, heult die Sippe auf. Der Leser jedoch sitzt mit seinem Buch in seinem Sessel, oder wo auch immer, und zwar allein, allein mit sich, dem Helden und dem Autor. Selbst den vergißt er, wenn es ein guter Autor ist, einer, der hinter die Geschichte zurücktritt, und der sie so geschrieben hat, daß sie wirklicher ist, als wenn sie tatsächlich passiert wäre, wie Mister Hemingstein meinte. Der Leser möchte nicht gestört werden. Er will sich auf den Lesestoff konzentrieren, und das Allerhöchste an Geräusch, das er dulden kann, ist eine leise musikalische Untermalung. Wenn ich als Kind beim Lesen war und meine Mutter mich zum Essen oder zum Geschirrabtrocknen in die Küche rief, hätte ich jedes Mal vor Verzweiflung und ohnmächtiger Wut aufheulen können.

„Wenn die Geschwister plärren und die Mutter keift, wenn der Vater nach der Pulle greift, wenn Gäste vor der Türe stehn, Leser, mußt Du stiften gehen!“
(Von mir.)

Der Versuch, öffentliche Lesehallen zu betreiben, hatte sich schnell überholt, als die Wohnbedingungen besser wurden, und ich kannte genügend Plätze, an die ich mich zum ungestörten Lesen zurückziehen konnte. Aber das ist die Theorie. Die Sache hat noch einen anderen, wenn man so will, sozial-praktischen Aspekt. In der Gesellschaftsschicht, aus der ich komme, war das Lesen von Büchern, bis auf Ausnahmen, versteht sich, nicht die Norm. Und sie ist es nach meinen Erfahrungen auch heute nicht. Der Leser, bleiben wir bei dieser sozialen Kategorie, tendiert zum Individualismus. Er entzieht sich eher dem Gruppenzwang, und er interessiert sich weniger für Sport im Verein und Motorräder in der Clique – heute erfüllen Autos diese Funktion – und Auslandsurlaub in der Reisegruppe, und einen Kleingarten schätzt er vor allem wegen der Möglichkeit, mit seinem Buch, einem Liegestuhl und einem Glas Wein hinter einer dichten Hecke verschwinden zu können. Kurz, der Leser als soziales Wesen neigt zu Absonderung, und seine Mitmenschen, die Nichtleser, begegnen Ihm mit Skepsis und Mißtrauen. Vor allem mit Mißtrauen, und das ist angebracht, denn der Leser neigt außerdem zum Nachdenken über Gott und die Welt, über Politik und Politiker, über Ökologie und Ökologen, Lehrer und Belehrte, über Künstler und Kulturfunktionäre und über seine sonstigen Mitmenschen. Ein Kerl, der lieber mit einem Buch ins Bett geht statt mit einem anständigen Rausch, und ein Typ, der lieber über Kerouac und Dostijowski redet als mit seinen sexuellen Abenteuern zu prahlen, verdirbt den ganzen Spaß und die Laune der übrigen Lehrlinge auf der Internatsbude. Und das macht einsam.

(Forts. Folgt)

 

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Bücherei – Heute: Teil 5, in dem Schwung in die Geschichte kommt

Als ich begann Lesen zu lernen, und als sich die ersten Erfolge zeigten, versuchte ich alles zu lesen, was sich mir an Gedrucktem darbot. Ladenschilder, Plakate, Transparente – „Deutsche an einen Tisch!“ stand an vielen Mauerresten geschrieben – , Anschläge an Litfaßsäulen, Preistafeln in Läden und an Kiosken. An manchen Häuserwänden war deutlich „LSR“ zu lesen und lange Pfeile wiesen irgendwohin. Auf meine Fragen erhielt ich keine erschöpfende Auskunft, aber die Geschichten von den Bombennächten, die meine Mutter mit meinem Bruder in Chemnitz verbringen mußte, waren während meiner Kindheit allgegenwärtig. Besonders die Geschichte vom vergessenen Pflaumenkuchen, und ich wette, in fast jeder deutschen Familie gibt es eine Geschichte vom vergessenen Pflaumenkuchen. Natürlich las ich laut, und meine arme Mutter muß manchmal schrecklich genervt gewesen sein, wenn wir zusammen einkaufen gingen oder ich ihr bei irgendeiner Besorgung behilflich war. Ich zeigte schon vor meiner Einschulung reges Interesse an Gedrucktem. Ich erinnere mich, daß ich die Buchstaben eines Zeitungsartikels mit Bleistift auf ein Blatt Papier übertrug, das ich meiner Mutter zu lesen gab. Sie hat herzlich gelacht, und ich weiß bis heute nicht, was ich „geschrieben“ hatte.

Dabei hatte ich keinen guten Start ins Schülerleben. Einige Wochen vor meiner Einschulung erkrankte ich an Scharlach, und das war damals eine ernste Sache. Im Krankenhaus wurde ich mit Penizillin vollgepumpt – im wörtlichen Sinne per Injektionsspritze -, und als ich wieder zu hause war, mußte ich noch drei Wochen im Bett bleiben, und ich bekam drei weitere Wochen Erholung verordnet. Der erste September fiel in diese Zeit, und so erlebte ich meinen ersten Schultag Wochen später, und es gab auch keine Familienfeier. Ich bekam aber eine Zuckertüte, und ich kam mir ziemlich bescheuert vor, als mich meine Mutter mit dem Ding nach Schulschluß abholte. Im Haus gegenüber, in der Nummer 36, wohnte ein Mädchen namens Eva Weidhaas, das so alt war wie ich und das in die selbe Klasse eingeschult wurde. Ich kannte sie vom Sehen, aber näheren Kontakt hatten wir nicht. Unsere Mütter vereinbarten, daß Eva jeden Tag, an dem ich mich erholen und noch nicht zur Schule gehen sollte, eine halbe Stunde zu uns nach hause kam, um mir den neuesten Lernstoff zu vermitteln. So wurde sie meine erste Lehrerin, und ich übte unter ihrer Anleitung das Malen von Zuckertüten und irgendwelchen Kringeln. Auch die ersten Buchstaben und Ziffern brachte sie mir bei. Sie war recht hübsch, trug immer adrette Kleidung, und sie hatte nie zerschrammte Knie oder schmutzige Hände. Meine Mutter kochte Kakao und reichte Kekse oder anderes Gebäck, wenn wir in unserem Wohnzimmer am Eßtisch saßen und lernten, und das war unter der Woche eher ungewöhnlich. Eva war ein sehr gewissenhaftes Kind, und sie korrigierte meine ungelenken Versuche stetig und mit großem Eifer, und heute weiß ich, daß sie es genoß.

Als ich endlich richtig lesen konnte, verschlang ich zunächst den Rest des Lesebuches der ersten Klasse, und nachdem ich alle meine Bilderbücher selbst gelesen hatte, vollständig das der zweiten, das irgendwo herumlag.

Das erste Buch, das ich in der Kinderbücherei auslieh, war eine Sammlung Persischer Märchen, und es hieß „Das Papageienbuch“. Es war wunderbar farbig illustriert, und heute weiß ich, daß es eine Menge mit den „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“ zu tun hatte. Ich kannte Europäische Märchen durch Filme und Hörspiele, aber die orientalische Exotik übte auf mich eine Wirkung aus, die faszinierend und beunruhigend zugleich war. Ich glaube, damit war ich ein und für allemal der Lesemanie verfallen. Hunderte, ja Tausende Bücher warteten darauf, von mir gelesen zu werden, was für ein Gedanke! Meinen Eltern wurde erst später und ganz allmählich klar, was sie angerichtet hatten, als sie das Anmeldeformular unterschrieben. Aber da war schon alles zu spät. Sie zeigten freilich wenig Interesse an meiner Leidenschaft, es sei denn, sie fühlten sich gerade mal wieder bei einem Elternabend wegen meiner Faulheit und Schlampigkeit öffentlich angegriffen. In diesem Falle gab es Büchereiverbot, das ich jedoch geschickt unterlief. Vielleicht war es aber nur so, daß meine Eltern keine Ausdauer bei der Überwachung des Verbots aufbrachten. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie je versucht hätten, mich bei der Auswahl meiner Lektüre zu beraten. Allerdings war man damals bei den Bibliothekarinnen in guten Händen. Die heute allgemein übliche Freihandausleihe war in öffentlichen Bibliotheken unbekannt. Die Bibliothekarin hatte eine große Kartei vor sich auf der Theke, in der die Bücher nach Lesealter und Themen geordnet waren. Statt eines unscheinbaren Leserausweises hatte man ein sogenanntes Leseheft. Nach einem Blick auf den Umschlag des Heftes, auf dem der Geburtstag vermerkt war, wählte sie in der Kartei aus und machte dem kindlichen Leser Vorschläge. Man nahm, was man nicht kannte. Oh, diese Methode hatte ihre Vorzüge! Auf diese Weise war die Auswahl bunt und vielfältig, und man wurde nicht einseitig. War man ein häufiger Besucher wie ich, dann kannte die Bibliothekarin natürlich die vom Leser bevorzugte Art von Büchern. Eine andere Methode war es, sich eine Bücherliste anzufertigen, die man der Bibliothekarin übergab oder vorlas. Aber das war mir zu aufwendig, und ich liebte die Überraschung. Ich wechselte alle paar Monate meine Lieblingsthemen. Märchen und Sagen, der Bürgerkrieg (in Rußland, natürlich) und der Große Vaterländische Krieg, Seefahrer und Entdecker, Populärwissenschaft und Technik, die Indianer und ihr Kampf gegen das Vordringen der Europäer oder eben einfach nur Geschichten – das waren solche Phasen, wobei mir die Phase „Seefahrer und Entdecker“ besonders gut in Erinnerung geblieben ist. Die Herren Cook und Krusenstern, Miklucho-Maklai und Magellan und andere, deren Namen ich vergessen habe, waren in dieser Zeit meine Helden. Das Problem bestand darin, daß sich außer mir niemand sonst für diese Burschen interessierte.

(Forts. folgt)

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Bücherei – Heute: Teil 4, in dem wir zum Thema zurückkommen

Am liebsten spielten wir auf der Zweiunddreißig. So nannten wir ein Trümmergrundstück, die Reste des Hauses Nummer 32, auf dem sich die Jugend der Straße zu treffen pflegte, bis auch dieses eingeebnet wurde. Wir bauten aus den herumliegenden alten Ziegeln kleine Hütten – unsere Buden. In solch einer Bude habe ich zum ersten Mal ein nacktes Mädchen gesehen. Sie war älter als wir, und wir kannten sie nicht. Sie suchte sich ein paar kleine Jungs auf den Höfen zusammen, und wir mußten im Schutz der Bude verschiedene merkwürdige Dinge mit ihr anstellen. Im allgemeinen jedoch war es in solch einer Bude immer sehr behaglich.

Die Großen legten irgendwann den schuttübersäten Innenhof frei, befestigten die Ränder des Trümmerhaufens zum Haus hin mit alten Ziegeln, und malten mit weißer Farbe an die Wände der unversehrten Nachbarhäuser die Fußballtore. Im Winter rodelten wir dort. Auch als Festung war sie hervorragend geeignet. Die straßenwärtigen Mauern standen teilweise noch bis zur Höhe der Erdgeschoßdecke. Nur in der Mitte, wo die Haustür gewesen war, führte ein schmaler Pfad auf den Trümmerberg, und der ließ sich zum Tauch´schen von zwei, drei beherzten Jungen leicht verteidigen. Da wir es „Tauchschorrn“ aussprachen, wobei wir die erste Silbe betonten und die zweite verschliffen, blieb uns die Herkunft des Wortes vom Namen der Stadt Taucha verborgen. Es war ein Kostümfest für Kinder, wobei das Wort Fest nicht genau den Kern der Sache trifft. Es fand alljährlich im Herbst Ende September oder Anfang Oktober statt, und seine Herkunft erklärt sich aus der Rivalität der Städte Taucha und Leipzig im Mittelalter, die zu dieser Zeit noch etwa gleich groß waren. Heute ist Taucha ein Vorort im Nordosten von Leipzig, und kürzlich hätten wir es um ein Haar eingemeindet. Wir verkleideten uns vor allem als Indianer und Trapper, das Wort Cowboy tauchte erst später in der Umgangssprache auf, und im Papierwarenladen der Schwestern Petermann, gleich um die Ecke in der Karl-Liebknecht-Straße, gab es Knallerbsen und Schminke, Indianerstutze und „Trapperhüte“ aus Papier zu kaufen. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich später Abbildungen sah, auf denen Trapper mit ihren typischen Pelzmützen dargestellt waren! Dieser Laden und die ältlichen Schwestern waren in unserer Gegend eine Institution. Solange es sie gab, habe ich nie ein Schulheft, einen Malblock oder einen Bleistift woanders gekauft.

Ein zünftiges „Indianerrot“ stellten wir aus zerstampften Ziegeln und Wasser selbst her, und wir schmierten es uns fachmännisch gegenseitig ins Gesicht. Alte Ziegelbrocken lagen genügend umher, und man konnte sie auch gut als Wurfgeschosse benutzen, wenn die Kinder aus des Siddsche – gemeint war die Sidonienstraße – kamen, um denen aus der Hohen ihre alljährliche Abreibung zu verpassen. Wie diese Prügeleien ausgingen, weiß ich nicht, ich war noch zu klein. Später nahm es zivilisiertere Formen an, und irgendwann verschwand Tauch´schen ganz. Auch Wiederbelebungsversuche konnten daran nichts ändern.

Unsere großen Geschwister ängstigten uns mit schauerlichen Erzählungen über die Untaten der Siddsche, und wir Kleinen versteckten uns, ängstlich und neugierig zugleich, in den Hausfluren, wenn es hieß: „De Siddsche gommd!“. Irgendwann, als ich älter geworden war, begann ich zu glauben, daß unsere älteren Geschwister die einschlägigen Einzelheiten eher aus Karl-May-Romanen entliehen hatten. Als ich längst erwachsen war, erfuhr ich aus sicherer Quelle, daß sie keineswegs geflunkert hatten. Die alljährlich wiederkehrenden Keilereien zwischen den Kindern verschiedener Straßen nahmen manchmal den Charakter von Bandenkriegen an. Einzelgänger wurden gefangen und verschleppt, man ging besser nicht allein durch feindliches Gebiet. Man fesselte sie, brachte sie in ein Versteck, und es soll zu veritablen Folterungen gekommen sein. Wenn man bedenkt, daß der Krieg 1952 erst seit sieben Jahren vorüber war, und daß das Land in weiten Teilen noch immer zerstört war, und daß viele der damals Acht- bis Dreizehnjährigen niemals ihre Väter kennenlernen würden, und daß ein großer Teil der Bevölkerung Haus und Hof und Heimat und damit seine Wurzeln verloren hatte, war das alles nicht verwunderlich. Die Väter, die nach Hause zurückgekehrt waren, waren mit sich selbst und ihren emanzipierten Ehefrauen überfordert, und die autoritären Erziehungsmethoden der vergangenen Jahrzehnte begannen sich unmöglich zu machen. Man erfand damals den Begriff der Schlüsselkinder, und letztlich hing uns allen der Schlüssel zum Zuhause an irgendeinem Bindfaden um den Hals.

Und wenn wir schon mal bei Karl May sind, sind wir auch wieder beim Thema, verlieren wir ruhig ein paar Worte über ihn. In jenen Jahren waren seine „Werke“ hierzulande nicht opportun. Seine Romane wurden nicht gedruckt, und seine Existenz wurde geflissentlich übergangen, bis es irgendwann wenigstens teilweise zu einer Rehabilitation kam. Ich weiß nicht, was die Kulturpolitiker zu dieser Haltung veranlaßt hat, aber für mich steht außer Zweifel, daß es sich neben ideologischen Bedenken auch um wirtschaftliche Gründe gehandelt haben muß. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß das Indianer- oder Karl-May-Museum in Radebeul niemals in seiner Existenz bedroht war, jedenfalls nicht bis zur Wende, und dann fällt mir noch ein, daß ich als Junge ein Groschenheft kaufte, in dem ein Auszug aus einem der Kara-Ben-Nemsi-Romane abgedruckt war. Damals machten die zerlesenen Bücher mit den nachgedunkelten Einbänden unter den Großen die Runde. Aus irgendwelchen Gründen bekam ich das erste Exemplar eines Karl-May-Romans erst in die Hände, als ich bereits achtzehn Jahre alt war. Ich kam nicht weiter als bis zur elften Seite, und dann hatte ich es satt und ich gab es auf. Der „herrliche Spinner aus Radebeul“ war mir verleidet, ein für alle mal.

Forts. folgt

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Bücherei – Heute: Teil 3, immer noch neben dem Thema …

Die Zeit zwischen 1945 und 1955 war eine große Gleichmacherin. Mir war natürlich bewußt, daß die Menschen, auch meine Freunde und Klassenkameraden, in Bildung, Einkommen, Herkunft und Neigung verschieden waren. Aber aus selbständigen Handwerkern und Händlern, Intellektuellen und Beamtem wurden nach den großen Fluchtbewegungen und in der Umschichtung der Zeit Proletarier wie wir, und die fähigen Ingenieure gingen entweder gleich in den Westen, oder sie stiegen erst durch ihre Einzelverträge wieder in der Hirarchie nach oben, als die Abwanderung zur Bedrohung für die Wirtschaft wurde. Wer im Osten des Reiches ein Haus, ein Grundstück oder eine Bauernwirtschaft mit ein paar Feldern, Wiesen und Kühen besessen hatte, ging in die Schwerindustrie, die Chemie oder in den Bergbau, und er wurde zum Mieter einer miefigen Hinterhauswohnung ohne Bad und Innentoilette. Es sei denn, er profitierte von der Bodenreform und wurde Neubauer. Egal, wo man einzukaufen pflegte, im Konsum-Laden, im HO-Laden oder beim privaten Kaufmann, es gab überall die gleichen Produkte zu kaufen, wenn es sie denn zu kaufen gab, und sie kosteten überall das selbe. Unsere Väter tranken das gleiche Bier und den gleichen Verschnitt-Weinbrand und wir Kinder die gleiche gelbe oder rote Limonade, manchmal war sie auch farblos und schmeckte einfach süß-sauer. Die Einführung eines Getränkes, das sich Vita Cola nannte, kam einer Revolution gleich. Sein vergleichsweise geringer Zuckergehalt, heute ein zugkräftiges Werbeargument, war damals vermutlich eher auf die knappen Ressourcen zurückzuführen. Wir besuchten keinen Kindergarten, und unsere Mütter waren nicht berufstätig, es sei denn, sie waren alleinstehend. Trotzdem wuchsen wir alle auf der Straße auf. Unsere Mütter hatten bei drei bis fünf Kindern alle Hände voll mit dem Haushalt zu tun. Es gab keine Waschmaschinen und keine elektrischen Kühlschränke. Ein alter Siemens-Staubsauger im Haushalt meines Freundes D. weckte in mir Erstaunen und Unverständnis. War große Wäsche angesagt, dann hieß das „Waschfest“, und ein solches Waschfest konnte mit allem Drum und Dran ein paar Tage dauern. So hatten sie alle Hände voll zu tun, und wir waren meist uns selbst überlassen. Beaufsichtigt wurden wir, solange es nötig war, von unseren älteren Geschwistern, oder von den Geschwistern unserer Gefährten, oder von irgendwelchen anderen älteren Kindern aus der Nachbarschaft. Die nach Altersstufen sortierten Cliquen und die Differenzierung nach „Studierten“ und „Nichtstudierten“ kamen erst später auf, und das Wir-Gefühl war für mich etwas ganz Selbstverständliches.

Natürlich gab es Ausnahmen. Im Nachbarhaus, der Nummer 29 – Vorderhaus, wohnten zwei Mädchen, eineiige Zwillinge, die mit mir gemeinsam zehn Jahre lang die selbe Klasse besuchten. Sie hießen I. und B., und ihr Vater betrieb eine selbständige Druckerei. Sie waren zwei nette, durchschnittliche Kinder ohne Hang zu Absonderlichkeiten. Sie trugen immer genau die gleiche adrette Kleidung, und ihre Haare waren stets auf die selbe Weise frisiert. Sie benutzten die gleichen Ranzen, Turnbeutel und Federmappen, und niemand, außer ihrer Mutter, konnte sie auseinanderhalten. Sie taten immer alles gemeinsam, aber sie spielten selten auf der Straße, denn sie besaßen eine Kinderstube. Lange hatte ich diesen Ausdruck für etwas rein Symboliches gehalten, das im Gezeter der alten Weiber manchmal eine Rolle spielte. Als ich jedoch gemeinsam mit den Zwillingen das erste Mal in ihrem geräumigen und kuscheligen Kinderzimmer Hausaufgaben erledigte, wurde mir der Unterschied bewußt. Unser Kinderzimmer dagegen war mit zwei Betten, einem Kleiderschrank, einem Tisch und einem Kachelofen fast völlig ausgefüllt, und mein Bücherregal, eine Eigenkonstruktion meines Vaters, war über dem Tisch an der Wand befestigt. Die Möbel waren alt und eher zufällig zusammengestoppelt, und alles war auf Zweckmäßigkeit ausgelegt. Platz zum Spielen gab es wenig. Die Zwillinge genossen eine durch und durch (klein-)bürgerliche Erziehung, und ihr Tagesablauf war streng geregelt. Wenn ich bei ihnen klingelte, um sie zum Spielen abzuholen, hieß es meist, sie müßten jetzt lernen. Deshalb ließ ich das irgendwann bleiben. Als wir in der achten oder neunten Klasse waren, erlitt eine von ihnen einen Nervenzusammenbruch, und sie nahm viele Wochen lang nicht am Unterricht teil. Anläßlich einer Klassenfete während dieser Zeit hätte ich mit der anderen beinahe etwas angefangen, aber es wurde nichts daraus. Wer weiß, was aus mir geworden wäre …

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Bücherei – Heute: Teil 2, etwas daneben …

Wenn man von der Leihbücherei aus hundert Meter weiter in Richtung Stadtzentrum ging, fand man auf der selben Straßenseite ein privates Buchantiquariat, heute würde man wahrscheinlich Secondhand-Buch-Shop sagen, damals hieß das Modernes Antiquariat. Ich kann aber nicht beschwören, daß dort nicht auch wirklich antiquarische Bücher gehandelt wurden. Es war ein Laden des berühmten Antiquariats Goedecke, das in Leipzig mehrere Filialen unterhielt. Dort habe ich als junger Bursche in den Sechzigern und den frühen Siebzigern so manches lang gesuchte Buch sehr billig erwerben können. Ich erinnere mich an mehrere Lem-Ausgaben und diverse Science-fiction-Bücher anderer Autoren, die wir damals noch „Utopische“ nannten. Außerdem Heinrich Manns „Henry Quatre“, einige Krimis vom Verlag Volk und Welt, Dürrenmatt, Böll, Lenz und andere Autoren, alles Raritäten wegen der geringen Auflagenhöhe – VOLK UND WELT mußte die Lizenzen in harten Devisen bezahlen – und alle außerordentlich begehrt. Es war eine Lust, in dem engen und altmodischen Laden zwischen den Regalen herumzustöbern! Es stimmt mich traurig, daß so weniges von damals die großen und kleinen Katastrophen der Jahre in meinem Regal überdauert hat. Nun gut, inzwischen muß ich mir wieder Gedanken machen, wo ich Platz für neue Bücher in meiner Wohnung finde. Nur – es sind nicht mehr die von damals.

Sie kosteten – wie gesagt – Spottpreise, kein Vergleich zu den heutigen, und ich habe mich immer gefragt, wie der Besitzer auf seinen Profit kam. Eines Tages jedoch, buchstäblich über Nacht, war das Geschäft geschlossen. Wenige Tage später konnte ich beobachten, wie einige auffallend korrekt gekleidete junge Männer den Laden ausräumten, den Buchbestand in einen Lastwagen verluden und abtransportierten.

Von jener Stelle bis zur Kinderbücherei ist es nicht mehr weit. Man geht weiter stadteinwärts bis zum Leuschnerplatz, biegt dort nach rechts ab, und wenn man vor dem – jetzt leider geschlossenen – Ring-Café steht, ist man an der richtigen Adresse. Rechts neben dem Café, in einem Durchgang, fände man den Eingang, wenn es die Bibliothek heute noch gäbe. Das riesige, in der Gewandhausvariante des Zuckerbäckerstils erbaute Gebäude war damals unter dem Namen „Ring-Bebauung“ bekannt. Er rührte daher, daß der gesamte Promenadenring in dieser Manier bebaut werden sollte. Zum Glück ist uns das erspart geblieben.

Mancher Leser wird die Stirn runzeln. Gab es in den fünfziger Jahren nichts Bewegenderes als Bücher und Bibliotheken, wird er sich fragen, das Land wurde aufgebaut, wird er sagen, und er kommt uns mit irgendwelchen privaten Buchverleihern und kriminellen Antiquaren. Vielleicht will er uns noch erzählen, wie das Wetter war!

Na schön, im Westen waren sie damit schon fertig, mit dem Aufbau, und wie das Wetter war in jenen Tagen, weiß ich nicht mehr. Ich sollte es wissen, meint Mister Hemingstein, aber Mister Hemingstein ist lange tot. Man ist 365 Tage lang zwölf Jahre alt, und man kann nicht 365 Tage lang lauter erstaunliche und bemerkenswerte Abenteuer erleben, an deren Stimmungen man sich sein Leben lang erinnert. Die Schultage gleichen sich alle wie die Tage in einem Büro oder am Fließband. Es sind immer die selben Lehrer und die selben Mitschüler, und immer geht man den selben Weg zur Schule, und auf den Pausenbroten ist immer der gleiche Belag, und zum Abendessen gibt es auch immer das Gleiche. In den Ferien ist das anders. In den Ferien sause ich auf meinem weinroten MIFA-Tourenrad die Grunerstraße hinunter, die als einzige weit und breit durchgehend asphaltiert war, und der Wind jenes Sommers weht mir heiß wie aus dem Fön um die Ohren und er fängt sich in meinem offenen Hemd, und wir quälen uns auf der Merseburger Landstraße die Steigung zum Sandberg in Rückmarsdorf hinauf, wenn wir zum Schnorcheln an den Kanal fahren, und die weißen Wölkchen am blauen Himmel sind trügerisch, denn eine Stunde später zieht der Regen heran. Am Kanal gibt es keine Möglichkeit zum Unterstellen, und der Sommerregen fällt zischend auf die Wasseroberfläche, und wir versuchen uns notdürftig mit unseren Handtüchern vor der Nässe von oben zu schützen, vergebens. Aber die Ferien meiner Kindheit sind nicht das Thema. Freilich – die Sommer waren noch Sommer, im Winter fiel noch richtiger Schnee, man konnte noch rodeln gehen, und im Hof konnte man einen Schneemann bauen. Wetter machte auf mich wenig Eindruck. Wenn es schön war, und schön war ein weiter Begriff, dann spielten wir auf der Straße oder auf unserem Hof, oder auf einem Hof in der Nachbarschaft. Wir wohnten in der Hohen Straße, in der Nummer 35, auf dem Abschnitt zwischen Bernhard-Göring- und Karl-Liebknecht-Straße. Die Nummer 51, in der um 1925 der junge Doktorand Kästner einige Zeit gewohnt hatte, befand sich außerhalb unseres Quartiers, weiter westlich in Richtung „Musikerviertel“, wo die Häuser begannen, einen diskreten bildungsbürgerlichen Charme auszustrahlen. Die Straße war – wie der gesamte Stadtteil zwischen Peterssteinweg und Connewitzer Kreuz – zur Gründerzeit entstanden. Die meist repräsentativen Vorderhäuser gruppierten sich mit ihren plebejischen Seitenflügeln und Hinterhäusern um Höfe, die ganz oder teilweise gepflastert oder asphaltiert waren. In den Seitenflügeln und Hinterhäusern befanden sich Garagen, Werkstätten oder kleine Fabriken. In den fünfziger Jahren wurden sie fast alle noch privat betrieben. Zwischen den Häusern waren Lücken, die der Bombenkrieg gerissen hatte, und in manchen der Lücken, auf den sogenannten Trümmergrundstücken, standen noch erdgeschoßhohe Ruinen. Aber ich will nicht vorgreifen. Die Höfe der Nachbarschaft waren oft für uns tabu. Manchmal wegen der laufenden Produktion, manchmal aber auch wegen einer ganz besonderen Spezies von Hausbewohnern – den alten Weibern. Sie duldeten es nicht, wenn fremde Kinder auf „ihrem“ Hof spielten. Besonders widerlich war die alte Krausen aus dem Seitenflügel der Nummer 36, gleich gegenüber. Der Hof war asphaltiert, und er war groß genug, daß man wunderbar Roller oder Rad fahren konnte. Der große Bruder meines Freundes brachte mir dort auf einem alten Damenrad das Radfahren bei. Die Alte wohnte im Erdgeschoß, und sobald sie uns bemerkte, riß sie das Fenster auf und keifte los. Ihre Stimme war so fürchterlich durchdringend, wie ich es niemals wieder in meinem Leben gehört habe. Selbst als Soldat nicht. Ich hatte Angst vor ihr, ich denke, wir alle hatten Angst vor ihr, und ich habe sie mit der ganzen Kraft meiner kindlichen Seele gehaßt. Nachdem jemand mit Kreide „Krausen is doof“ auf eines der Garagentore geschrieben hatte, traute ich mich gar nicht mehr dorthin, außer ich wußte genau, daß sie nicht zu hause war. Sie lebte allein, und sie zog ihre Enkelin auf. Die Enkelin war ein hübsches Mädchen, und sie war wohl etwas älter als unsere älteren Brüder und ihre Freunde. Irgendwann fing sie an, sich mit Männern abzugeben. Das waren keine gewöhnlichen jungen Burschen, wie wir sie in der Nachbarschaft hatten, fröhlich und jederzeit zu Scherzen und wichtigtuerischen Gesprächen mit uns Jüngeren aufgelegt, während sie an ihren Motorrädern bastelten. Sie ging mit reifen und distinguierten Herren aus, und irgendwann war sie schwanger und die distinguierten Herren waren alle weg. Das sagten jedenfalls unsere Mütter. Ich schäme mich heute ein wenig, daß ich damals eine gehörige Portion Schadenfreude empfand – aber die Scham hält sich in Grenzen.

Forts. folgt

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Bücherei – Heute: Teil 1

Bücher, das Lesen und die Literatur haben in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. In einem „Erinnerungs-Essay“, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe, schilderte ich, wie es dazu gekommen ist. Bis heute habe ich es nicht auf meiner Web-Seite veröffentlicht, weil es zu lang ist. Jetzt habe ich mich entschlossen, dieses Stück in Fortsetzungen als Blog zu veröffentlichen. Hier ist der erste Teil:

Bücherei – Teil Eins

Ich war etwa acht Jahre alt, als mein älterer Bruder mich das erste Mal in eine Kinderbücherei mitnahm, und es muß im Jahre 1955 gewesen sein.

Bis dahin kannte ich nur die Leihbücherei, in der sich meine Eltern regelmäßig mit Lesestoff versorgten. Wir wohnten in Leipzig, und sie befand sich in der Karl-Liebknecht-Straße, kurz bevor sie Richtung Innenstadt zum Peterssteinweg wird, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Für dreißig Pfennige konnte man ein Buch eine Woche lang ausleihen, und man konnte auch Bücher kaufen. Als die privaten Ausleihen von „Schund und Schmutz“ gesäubert wurden, es war wohl Mitte der fünfziger Jahre, kamen keine Kunden mehr, und der Laden ging ein. Ich habe nie erfahren, welcher Art die Bücher waren, die sich meine Eltern ausliehen. Sie waren alle in gelbes Papier eingeschlagen, und Titel und Verfasser waren mit Kopierstift auf den Buchrücken vermerkt. Da ich zu jener Zeit noch nicht lesen konnte, sagte mir die Schrift nichts, und ich suchte nur nach Büchern mit möglichst vielen bunten Bildern. Zuerst übernahm der Volksbuchhandel den Laden. Weil sich aber fünfzig Meter weiter die renommierte „Bücherstube Gutenberg“ befand, wurde später ein Hutgeschäft daraus. Noch einiges später konnte man dort Obstwein kaufen, vorausgesetzt, es gab gerade welchen, und man hatte ein Gefäß dabei.

Meine erste Begegnung mit Büchern hatte jedoch viel früher stattgefunden. Schon als ganz kleiner Junge war ich wild auf Bilderbücher, und manchmal bekam ich von Bekannten oder Verwandten eines geschenkt. Nachdem man mir die Texte zu den Bildern mehrmals vorgelesen hatte, konnte ich sie auswendig, und ich wußte genau, welcher Text zu welchem Bild gehörte. Gern wurde ich Gästen als lesendes Vorschulkind vorgeführt. Als sich eine angeheiterte Geburtstagsgesellschaft einmal wie toll amüsierte, weil ich das Buch in der Aufregung verkehrt herum hielt, war damit Schluß.

An das Bilderbuch, mit dem mir dieses Mißgeschick passiert war, kann ich mich gut erinnern. Es erzählte in herzig bunten Bildern von einem Geschwisterpaar, das in einer Försterei mitten im tiefsten Walde lebte, aber vielleicht verbrachten sie auch nur den Sommer bei den Großeltern. Soweit ich mich erinnere, bestand der Höhepunkt der Geschichte darin, daß sich der Junge im Wald verirrte, und zu guter Letzt von den Leuten des Suchtrupps friedlich schlafend unter einem Nadelbaum gefunden wurde. Viel später, als ich durch einen Ferienaufenthalt im Thüringer Wald wußte, wie richtiger Nadelwald aussieht, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie ein kleiner Junge auf all diesen Wurzeln und Farnen, Steinen und Ästen, Spinnen und Käfern, angesichts aller jener Verlustängste ruhig schlafen konnte. Sie sehen, damals verstand ich noch nichts von Literatur …

Natürlich hatten wir auch zu Hause Bücher, aber ihre Anzahl war eher bescheiden. Es handelte sich vorwiegend um populärwissenschaftliche Bücher und Fachliteratur meines Vaters und Politisches. Ich kann mich gut an einige Bände Stalin erinnern, aber die waren eines Tages verschwunden. Romane gab es auch, gewiß, „Der Frosch mit der Maske“ und Selma Lagerlöfs „Die Erben von Bjälbo“, aber vor allem Bücher, bei deren Lektüre ich später nie über die dritte Seite hinauskam. Ludwig Renns „Adel im Untergang“ war eine Ausnahme. Ich las es als Junge, und ich fand die satirischen Aspekte des Buches amüsant. Ich las es als junger Erwachsener erneut, und ich erschrak über meine kindliche Unbedarftheit. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Eltern je ein Buch für den eigenen Bedarf kauften. Die Leihbücherei war immer noch billiger, und sie war gleich um die Ecke. Wir Kinder bekamen jedoch öfters Bücher geschenkt, besonders zum Geburtstag und zu Weihnachten, als „Persönliches“ neben Hemden, Pullovern, Handschuhen und Strümpfen. Auf die Reihe „Robinsons billige Bücher“ vom Kinderbuchverlag Berlin muß man in diesem Zusammenhang besonders hinweisen. Jeder einfache Band – es gab auch doppelte – kostete nur zwei Mark. Als Markenzeichen trugen sie eine Vignette, die Robinson Crusoe im Korb eines Freiballons darstellte. Das sollte wohl ein Zitat des damals beliebten Scherzliedes sein: „Robinson, Robinson flog in einem Luftballon, und als er wieder unten war, da war er wieder da…“. Sie wurden auch gern als Anerkennung von Schule, Pionierorganisation oder Ferienlagerleitung vergeben. Als ich bereits ein Schüler und ein Helferkind in der Kinderbücherei war – wir werden darauf zurückkommen – passierte etwas, was mir später so oder so ähnlich noch öfter widerfahren sollte. Die Mitarbeiter der Kinderbücherei veranstalteten im Rahmen eines größeren Festes, ich weiß nicht mehr zu welcher Gelegenheit, in der Aula unserer Schule ein Literaturquiz. Es gab jene Robinson-Bücher zu gewinnen, und ich wollte unbedingt einer der Kandidaten sein. Nicht weil ich ein Buch gewinnen wollte, sondern weil ich endlich einmal eine Gelegenheit sah, mich hervorzutun. Also meldete ich mich eifrig, und ich war sehr enttäuscht, weil man mich nicht als Kandidat auswählte, genauer gesagt, ich war stinksauer. Wer allerdings beschreibt mein Entsetzen, als ich dann die Fragen hörte. Nicht eine, nicht eine einzige, hätte ich beantworten können! Sie bezogen sich auf Bücher, die ich zwar dem Namen nach kannte, die ich aber eher läppisch fand, weil ich glaubte, bereits ein viel höheres Niveau in meiner Lektüre erreicht zu haben. Meine Enttäuschung und mein Entsetzen machten der Erleichterung platz, knapp einer Riesenblamage entgangen zu sein. Am Ende der Veranstaltung ergriff die Leiterin die Gelegenheit, mich für meinen Einsatz in der Bücherei mit einer Buchprämie öffentlich auszuzeichnen – Schwein gehabt! Am Ende meiner Kindheit jedenfalls hatte ich eine stattliche Anzahl von Bänden in meinem Regal.

Dazu fällt mir noch eine andere Geschichte ein. Mein älterer Bruder bekam einmal ein Buch geschenkt, das von steinzeitlichen Mammutjägern handelte, und es machte unter seinen Freunden die Runde. Es muß auf alle einen großen Eindruck gemacht haben, denn bald spielten wir am liebsten Steinzeit. Wir fertigten aus Zweigen, Steinbrocken und Kunstlederstreifen – die Mutter zweier Freunde meines Bruders – die Hartmanns aus der Nummer 29, Hinterhaus – arbeitete in einer „Kunstlederbude“, und sie brachte die Restverschnitte mit – Steinkeulen und Steinäxte, und die Größeren schnitzten aus Leisten Speere und Dolche. Auf unserem Hof legten wir eine Feuerstelle an – die erlegten Mammute konnte man schließlich nicht roh essen und das Feuer war echt, wir verbrannten die Holzabfälle einer benachbarten Tischlerei, von der wir auch überzählige Latten und Leisten bezogen – und sie bildete den Mittelpunkt der Sippe, ganz wie es in dem Buch beschrieben war. Aber auch in unserem Spiel war der Fortschritt nicht aufzuhalten. Die Speere mutierten zu hölzernen Gewehren, und die Geschickteren entwickelten aus ihnen Modelle, mit denen man Erbsen oder Murmeln verschießen konnte. Zu jener Zeit war das politisch nicht unbedenklich, aber vielleicht gerade deshalb. Auf diese Weise kamen wir schnell aus der Steinzeit heraus, und die moderne Welt hatte uns wieder …

Forts. folgt

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Spruch des Tages – Heute:

Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm Zieht.

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Fragen meines Enkels – Heute: Getränkedosen

Meine Tochter und mein Enkel sind zu Besuch. Der Junge ist fünf und geht in den Kindergarten. Wir sitzen nach dem Abendessen noch am Tisch und plaudern. Der Kleine starrt seit längerem gebannt auf die Bierbüchse neben meinem Teller. Ich habe ihm zum Nachtisch eine Süßigkeit aus einer Blechbüchse gegeben, die auch auf dem Tisch steht.
„Opa“, fragt er. „Warum kaufst du Büchsen?“
Ich mißverstehe ihn und beginne lang und breit zu erzählen, wie ich zu der Büchse, in der sich die Süßigkeiten befinden, gekommen bin.
„Nein“, sagt meine Tochter. „Er meint die Bierbüchse. Im Kindergarten lernen sie, daß Getränkedosen nicht gut für die Umwelt sind.“

Dabei grinst sie. Nun sieh zu, Alter, wie du aus der Nummer rauskommst! Aber das denkt sie nur.
Ich erkläre ihm, daß ältere Menschen oft nicht mehr so viel tragen können, und weil die Dosen nur einen Bruchteil der Pfandflaschen wiegen, kaufe ich eben die. Ich wohne immerhin in der vierten Etage. Und dann fällt mir zum Glück noch die Öko-Bilanz ein: Pfandflaschen müssen zurücktransportiert werden, und weil jede Brauerei ihre eigenen Flaschen hat, ist das ein riesiger logistischer Aufwand. Die Lastwagen sind schlimme Umweltsünder!
Und dann sage ich weiter: „Die Pfandflaschen müssen vor dem Neubefüllen mit einer ekligen, stinkenden Lauge gereinigt werden. Und dann muß man sie mit wertvollem Trinkwasser ausspülen, das dann einfach wegläuft, einfach so. Oder willst du aus einer Flasche trinken, in der vorher eklige, stinkende, braune und scharfe Lauge war?“
Der Kleine schaut mich an.
„Was ist Lauge?“
„Deine Mama wäscht deine dreckigen Hosen mit einer Lauge.“
„Ähhh!“
Obwohl ich nachdrücklich nicke, bleibt mein Enkel skeptisch. Meine Tochter lächelt, wenn auch ein wenig pikiert.
Sie kann sich mit Sicherheit nicht an eine Episode aus ihrer eigenen Kindheit erinnern. Sie hatte im Kindergarten gelernt, daß der Genosse Erich Honecker unsere Republik leitet und dafür sorgt, daß es allen Menschen gut geht, besonders den Kindern.
Es muß 1979 oder 1980 gewesen sein. Ich konnte das Kind doch nicht über die Probleme der Planwirtschaft aufklären! Und ich konnte ihm gleich gar nicht meine Probleme mit der Diktatur des Proletariats vermitteln. Also versuchte ich zu relativieren, und erklärte, daß er das nicht allein täte, und daß er kein allmächtiger Zauberer sei, wie der aus dem Märchen, das ich ihr vorgelesen hatte. Am Ende meiner Bemühungen hatte ich ein verstörtes und brüllendes Kind am Halse.
„Frau Schäfer hat aber gesagt!“ plärrte es.
Meine verärgerte Ehefrau nannte mich einen Idioten.
Nun, mein Enkel beginnt nicht zu brüllen, und meine Tochter würde mich nie einen Idioten nennen. Aber ein wenig verstört ist der Kleine schon.

Foto: Wikipedia

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Sie und Er – Heute: Beim Frühstück

Sie: Guten Appetit!
Er: Hm.
Sie: Gudrun und Heinz sind jetzt im betreuten Wohnen.
Er: Hm. (Guckt sie an.) … Schatz, du hast dein Hemdchen verkehrt herum an.
Sie (empört): Das ist kein Hemd!
Er: Was dann?
Sie: Ein Tieschöörd!

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