Noch ein Witz aus Leipzig

Anton sitzt in seiner Klasse und langweilt sich. Ein Blick auf die Uhr der Peterskirche macht es nicht besser. Es ist die letzte Stunde. Sie haben Deutsch, und statt von Antons Lieblingsfeindin, Fräulein Irion, werden sie von einer jungen Praktikantin unterrichtet. Es ist das Jahr 1961, und in Angola kämpft die sozialistisch ausgerichtete MPLA gegen die Kolonialmacht Portugal. Die eifrige junge Frau will politisch aktuell sein. Sie erzählt den Schülern in verkürzter Form, was man ihr gestern im Parteilehrjahr beigebracht hat.
So, liebe Kinder“, sagt sie. „Und jetzt bilden wir einen Satz mit ‚Angola‘!“

Anton hat „Atomvulkan Golkonda“ von den Brüdern Strugazki, ein 35-Pfennig-Heft, aus der Tasche gezogen und schmökert unter der Bank. Ab und zu hebt er den Kopf, um nicht den Faden zu verlieren. Die Klasse schweigt. Dann meldet sich Michael Schulz, der Klassenprimus. Er tut es, wie immer, mit ausgestreckter flacher Hand, das hat er wohl in einem sowjetischen Film gesehen.
In Angola kämpft das Proletariat gegen den Weltimperialismus“, sagt er.
Dann meldet sich Brigitte Marx. Sie ist die erklärte Rivalin von Michael Schulz, und sie will ihn ausstechen.
Das afrikanische Land Angola ist reich an Bodenschätzen.“
Ihre Nachbarin Angelika Sander grinst und schweigt.
Anton hat mal wieder kurz aufgeschaut, und sein Blick und der Blick der Praktikantin treffen sich zufällig. Sie sucht im Klassenspiegel, findet Antons Namen und sagt: „Bitte, Anton, jetzt Du.“
Anton schiebt das Heft unter die Bank und steht langsam auf. Er will eigentlich gar nichts sagen, und sein Kopf ist leer.
Angola!“ zischt sein Nachbar Günter Zemanek hinter vorgehaltener Hand. „Een Sadds mit Angola, Mensch!“
Fräulein Irion würde jetzt durch die Bankreihen gehen, sich Anton von hinten nähern und einen Blick unter Antons Bank werfen. Aber die unerfahrene Studentin tut nichts dergleichen. Sie wartet auf Antons Satz.
Anton tut, als würde er angestrengt nachdenken.
Äh“, sagt er. Und noch einmal: „Äh …“
Und dann hört er sich sagen: „An Gola gännd’sch mich doodsaufen.“

* * *

This entry was posted in Allgemein and tagged , , , , , , , , , , . Bookmark the permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert