Neulich sah ich eine Talkshow, in der ein Nichtwähler auftrat. Das Interesse des Moderators an dem Verweigerer war immens, und der junge Mann war sehr vergnügt. Der Nichtwähler als neue politische Kraft – was für ein Plot! Der junge Mann erschien mir wie ein It-Girl im mondänen Schuhgeschäft. An diesem Schuh war die Schließe nicht schick, an jenem der Absatz zu kurz, und der dritte war vom falschen Designer. Und der Vierte ging wegen der Farbe gar nicht!
Angeblich werde der Anteil der Nichtwähler immer größer. Was kann man dagegen tun? Über den Sinn und Unsinn einer gesetzlichen Wahlpflicht, wie es sie in Australien oder Belgien gibt, läßt sich streiten. Diesen Trend bekämpft man aber bestimmt nicht, indem man Nichtwähler, die auch noch stolz darauf sind, in einer populären Talkshow auftreten läßt. Man ließ den jungen Mann sogar ausreden!
Um allen jenen, die es nicht aus eigenem Erleben kennen, eine Vorstellung zu vermitteln, wie es ist, keine Wahlmöglichkeit zu haben, hier meine Erinnerung an die Wahlen in der DDR:
Es gab nur ein Wahlprogramm: Das der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland“. Welch merkwürdiger Name für eine Organisation eines antifaschistischen Landes! In dieser Organisation waren die fünf Parteien und fünf Massenorganisationen zusammengeschlossen. Massenorganisationen waren zum Beispiel der FDGB (Gewerkschaft) und die FDJ (Jugendorganisation). Das garantierte der SED die Mehrheit. Die führende Rolle der SED war überdies in der Verfassung der DDR festgeschrieben. Daher war das Wahlprogramm der Nationalen Front zugleich das Wahlprogramm der SED – also die Beschlüsse des jeweils letzten Parteitages. Die sogenannten Blockparteien, z. B. CDU und LDPD, galten als gehorsame Willensvollstrecker der SED innerhalb ihrer Klientel. Wahlkampf fand daher nicht statt. Er bestand im Wesentlichen aus endlosen Wahlaufrufen in den Medien: Wir wählen am Sonntag geschlossen die Kandidaten der Nationalen Front!
Auf den Wahlzetteln waren nur die Namen der Kandidaten abgedruckt und welcher Partei oder Organisation sie angehörten. Ein Kreuz zu machen war nicht vorgesehen, denn die Kandidaten wurden im Block „gewählt“. Man konnte nur komplett dafür oder komplett dagegen sein. In den Wahllokalen gab es eine einzige Wahlkabine, die aber von wenigstens einer Seite einsehbar war. Wollte man eine Gegenstimme abgeben, mußte man in der „Wahlkabine“ jeden Kandidaten einzeln durchstreichen. Ein einfaches komplettes Durchstreichen des Zettels war ungültig. Ich erinnere mich nicht, in der Wahlkabine je einen Stift gesehen zu haben. Manchmal gab es auch keine Auflagemöglichkeit für den Zettel. Jeder Wähler, der die Wahlkabine betrat, wurde registriert. In einer befreundeten Familie gab es deshalb einen schrecklichen Ehekrach, weil die Gattin in die Wahlkabine gegangen war. Der Genosse Gatte ist deshalb von seinem Parteisekretär zusammengestaucht worden. Man wurde auch registriert, wenn man der Wahl fern blieb. Ich selbst bekam Ärger, weil ich an einer Kommunalwahl nicht teilnahm. Ein „guter Freund“, von dem ich später erfuhr, daß er IM gewesen sei, machte mir bittere Vorwürfe. Aber wahrscheinlich ging es ihm nur um sein Image, weil ich wohl von seinem Führungsoffizier zu seinem engeren Umfeld gezählt wurde. Meistens jedoch lief die „Wahl“ so ab, wie es sich die Partei wünschte: Man nahm den Wahlschein entgegen, faltete ihn ungelesen zusammen und steckt ihn in die Urne. So erzielte man 99,9 % Zustimmung …
Die „alte“ Bundesrepublik erhielt die Demokratie als Geschenk von den westlichen Alliierten. Die Möglichkeit zu wählen ist ein Ausdruck dieser Demokratie. Und jetzt möchten die Wessis das Geschenk umtauschen? Die Ossis haben sich die Demokratie genommen. Und ich lasse sie mir nicht wieder wegnehmen. Das System hat viele Fehler. Aber es gibt kein besseres …
© Bernd Mai Sep. 2013