Bücherei – Heute: Teil 10, in dem gegen Schund und Schmutz gekämpft wird

Die öffentlichen Bibliotheken waren immer eine zuverlässige Bastion im Kampf gegen die imperialistische Unkultur und irgendwann gab es auch keine privaten Leihbüchereien mehr. Aber – ein Volk, das Karl May für einen bedeutenden Schriftsteller hält, läßt sich nicht so leicht auf Maxim Gorki und Sozialistischen Realismus einschwören, und sein alter Held Tom Mix feierte seine amerikanisierte Wiedergeburt. Die Wege, über die die bunten Groschenhefte aus dem Westen kamen, waren vielfältig. Bis 1961 war es sicher einfach, sie über die Grenze zu bringen, aber der Strom riß auch nach dem Bau der Mauer nicht ab. Mein bester Freund hatte wohlhabende Verwandtschaft in Westberlin. Sie betrieb das Bäcker- und Konditorhandwerk, und solange es möglich war, verbrachte er jedes Jahr einen Teil der Sommerferien dort. Nach seiner Rückkehr hörte ich jedes Mal staunend von den wunderbaren Dingen, die ihm widerfahren waren. Die Wohltaten, die die Konditorsleute an ihm verrichteten, war Legion. Auch ich profitierte von ihnen, denn er brachte die bunten Hefte kiloweise mit, und entweder schmökerten wir sie gemeinsam in seinem Zimmer oder ich lieh mir einen Stoß der Hefte aus, und ich konsumierte sie gleich mehrmals hintereinander heimlich bei mir zu hause. Heimlich, weil mein Vater – eingeschworen auf die offizielle Parteipolitik – so etwas nicht dulden konnte. Irgendwann kam mir allerdings der Verdacht, daß es ihm weniger um den Schutz meiner zarten Kinderseele ging, als darum, was die Leute sagen würden, wenn es herauskäme. Es war wie mit dem Westfernsehen: Jeder wußte, daß es verboten war, aber auch nicht richtig verboten, jeder schaute es trotzdem, und jeder wußte, daß jeder es trotzdem schaute. Wenn ich mich recht erinnere, gab es ein Gesetz gegen Schund- und Schmutzliteratur, aber wer wollte entscheiden, ob „Fix und Foxi“ eher Schund oder doch mehr Schmutz waren? Also tat man das Übliche, man versuchte gar nicht erst zu differenzieren. Aber nur die schauten nicht weg, die es von Berufs wegen nicht konnten, zum Beispiel Zöllner und Lehrer. In den Schulen kam es schon mal vor, daß zu Beginn einer Unterrichtsstunde alle Schüler ihre Ranzen und Taschen ausleeren mußten, und alles, was nach Comics und Groschenheften westlicher Herkunft aussah, wurde beschlagnahmt. Bei dieser Gelegenheit wurden Spielzeugpistolen, Katapulte und Fahrtenmesser gleich mit konfisziert.

Das System trieb seltsame Blüten. Einmal bekam ich Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“ von einer meiner Braunschweigischen Tanten geschenkt. Ich lieh es einem Freund, der einige Häuser weiter in der Straße mit seiner alleinstehenden Mutter wohnte. Zwei Stunden später brachte er es mir zurück. Seine Mutter hätte das angeordnet, weil es von einem westdeutschen Verlag herausgegeben worden war. Ein Wunder, daß sie ihm nicht den Umgang mit mir verboten hatte! Sie heiratete ein paar Jahre später einen Pförtner der Bezirksparteileitung, und ich gratulierte meinem Freund von ganzem Herzen zu seinem Stiefvater.

Heimat- und Liebesromane, die meine Mutter gern konsumierte, mochte ich nicht. Ich mochte die Jerry-Cotton-Hefte, ohne freilich zu ahnen, daß ein verrückter Sachse, noch einer, der Erfinder war, und auch sonst alles, was nach Krimi roch. Die Western-Romane hatte ich bald über. Ihre Geschichten um die ewigen Weidekriege waren mir zu schlicht gestrickt, und wenn es um Gangster, zum Beispiel Butch Cassidy, ging, verstand ich nicht, wieso sie Helden sein konnten. Die Helden hatten immer die Guten zu sein, hatte man mich gelehrt, und ein wenig glaube ich noch heute daran. Die bunten Comics fand ich zwar ein wenig seltsam, aber ich war kein Kostverächter. Akim und Tarzan, Prinz Eisenherz und Phantom, Sheriff Teddy und seine Polizeitruppe – ich las alles. (Kann man ein Comic eigentlich „lesen“?) Trotz ihres im Grunde karikaturistischen und kindischen Charakters konnte ich mich nicht damit abfinden, daß die Leute in den Bildergeschichten wirklich totgeschossen wurden, denn ich hatte, wie wir alle, eine pazifistische Grunderziehung genossen. Wenn in „Sheriff Teddy“ der milchbärtige Schütze den alten Westerner erstaunt fragt: „Oh, ist er schon tot?“ und der Alte knurrt: „Er hat es nicht besser verdient!“, dann weckte das Gefühle in mir, mit denen ich nicht umgehen konnte, und wäre ich ein Zeichner, könnte ich noch heute das Bild aus der Erinnerung reproduzieren. Am besten gefielen mir die Micky-Maus-Hefte. Die Welt, die sie widerspiegelten, war mir zwar fremd, aber die Figuren hatten was, und die phantasievollen Geschichten, in denen auch immer irgendwelche skurrilen Erfindungen mitspielten, regten zum Träumen und Modellieren mit Knete an. Die Frage, ob Donald mit Daisy Sex hatte oder nicht, stellte sich mir nicht, aber es blieb ein großes Geheimnis, wieso der Erpel seine drei Neffen allein großziehen mußte. Hannes Hegens MOSAIK war eine gute Antwort auf die Herausforderung, aber es war das selbe, als wollte man mit einem einzigen Sandsack einen gebrochenen Damm schließen. Es gab noch andere Versuche einer Antwort. Aber die waren entweder nicht bunt, oder nicht lustig, oder sie waren zu didaktisch und vordergründig propagandistisch. Aber auch hier, wie auf so vielen Gebieten in der DDR, steckte der Teufel im Detail, und nichts war so homogen und strikt, wie man es uns heute manchmal glauben machen möchte. Die Fünfundzwanzig-Pfennig-Hefte der Reihe „Das Neue Abenteuer“ vom Verlag Neues Leben, Berlin, waren zwar meist schlimmer Schund und ihre Titel waren mit schändlich-schlechten Illustrationen versehen, aber immerhin verdanke ich ihnen meine erste Begegnung mit Jack London, Ring Lardner und O. Henry. Im Übrigen hörte ich, daß sich mancher ernsthafte Schriftsteller die Datsche und den Wartburg mit dem Schreiben solcher Hefte nebenher verdiente – unter Pseudonym, versteht sich. Heute weiß ich, daß andere ernsthafte Autoren diese Reihen bedienten, nur um die Miete bezahlen zu können. Wenn sie bei den Politikern in Ungnade gefallen waren, hoben die meisten Verleger bedauernd die Hände, und niemand muß sich wundern, daß sie ihre Manuskripte in den Westen gaben. Der großartige E. L. zum Beispiel schrieb humoristische Kriminalromane für den Eulenspiegel-Verlag, als er aus Bautzen zurück war. Später ging er weg. Er war aber der Erste, der 1989 zurückkehrte, und er las in den hoffnungslos überfüllten Kammerspielen vor einem atemlos lauschenden Publikum. Den stehenden Applaus nahm er sichtlich befriedigt entgegen.

Die Hefte dieser Reihen kosteten fünfundzwanzig oder fünfunddreißig Pfennige, und wir benannten sie nach ihrem Preis. Jeder wußte, was mit einem Fünfunddreißig-Pfennig-Heft gemeint war, das waren die der besseren Art. Sie hatten ein kleines Format, etwa A5, und man konnte sie bequem in die Jackentasche stecken, in der Straßenbahn oder im Unterricht lesen und bei Bedarf schnell wieder verschwinden lassen. Wir kauften sie bei den Schwestern Petermann, im Papierwarenladen um die Ecke. Zwei lustige Mäuse aus der Kinderzeitschrift „Atze“ hätten die Wende überlebt, hörte ich neulich, man dreht einen Zeichentrickfilm mit ihnen. Und wenn die bunten Hefte weiter nichts bewirkt haben, so habe ich mich doch an ihnen satt gelesen. Ich habe an ihrem Beispiel gute und schlechte Literatur unterscheiden gelernt, und mein Bedarf war irgendwann endgültig gedeckt. Und was ist schon ein dünnes Heft voller bunter Bildchen gegen ein mehrbändiges Werk von Frau Welskopf-Henrich?

Bei WIKIPEDIA fand ich neben anderen Hinweisen zum Thema „Schund und Schmutz in der Literatur“ den folgenden Text, den ich kommentarlos so stehen lassen möchte:
„In der DDR wurde der Begriff ideologisch für die Auseinandersetzung der Gesellschaftssysteme genutzt und mit folgender Lesart definiert (Lexikon A–Z in zwei Bänden. Leipzig 1958): Schundliteratur: „Literatur, die nach Form und Inhalt wertlos (z. B. verlogen-sentimentale Liebesromane) und, besonders für Jugendliche, moralisch gefährlich ist (z. B. Gangstergeschichten). Die S. wird in den Ländern des Friedenslagers energisch bekämpft und vor allem durch eine wertvolle Jugendliteratur ausgeschaltet, während sie in den kapitalistischen Ländern teilweise in den Dienst der Aufrüstung gestellt wird.“ In den Schulen der DDR wurden jährlich durch die Klassenleiter Belehrungen über das Verbot von sogenannter „Schmutz- und Schundliteratur“ durchgeführt.“

(Forts. Folgt)

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