Buchhändler oder Bibliothekar kamen für mich als Berufswunsch nicht in Frage, wegen der geringen Vergütung, und beide Berufe galten als typische Frauenberufe. Mit fünfzehn, in den Gefühlsstürmen der Pubertät, führte ich ein Tagebuch. Lese ich es heute, kommt es mir seltsam glatt und kühl vor, geradezu banal: „Donnerstag, 10.10.63: Am Vormittag waren wir (Wir? Die Schulklasse?) in der Ausstellung (Hm, „Unser Leipzig – Sozialistische Großstadt mit Zukunft“?), nachmittags Kino, nicht schlecht. Gabi nicht gesehen. (Wer, zum Teufel, war Gabi?) Früh ins Bett gegangen.“ Und so weiter. Ich lese es, finde Äußerlichkeiten geschildert, und es scheint, als hätte ich nichts weiter gefühlt, aber das stimmt nicht. Mein Gefühlsleben war lebhaft, stark und chaotisch in jener Zeit, und es kommt mir so vor, als hätte ich versucht, es auf diese Weise zu bändigen und unter Kontrolle zu bekommen.
Meine enge Beziehung zu Uschi und zur Kinderbücherei endete, als ich etwa fünfzehn war. Ich war zuvor als Leser zur Erwachsenenausleihe der Stadtbibliothek gewechselt, die sich damals im Stadtzentrum, Markt 8, befand. Ich ging jedoch gelegentlich noch in die Bücherei am Roßplatz, um Uschi zu besuchen, und um mit ihr zu reden. Manchmal half ich noch in der Ausleihe. Ich erinnere mich nicht an das Ende, irgendwann war ganz einfach Schluß. Als Lehrling, mit fast siebzehn, kam ich nach Stralsund. Dort gab es eine andere Bibliothek, und es war ein anderes Leben.
Als ich etliche Jahre später nach Leipzig zurückkehrte, und mich ein seltsamer Drang an die Orte meiner Kindheit trieb, suchte ich auch die Kinderbücherei am Roßplatz auf. Es war außerhalb der Öffnungszeiten. Weil ich mich dazu berechtigt fühlte, klingelte ich lange und anhaltend. „Wir haben geschlossen!“, tönte es mehrmals aus der Sprechanlage, aber ich achtete nicht darauf und klingelte weiter. Schließlich öffnete mir eine fremde junge Frau. Sie trat auf den Treppenabsatz, während sie die Reste einer Schönheitsmaske entfernte, die sie wohl gerade aufgetragen hatte, und sie war wegen der Störung sehr ungehalten. Ich erklärte ihr mein Anliegen, und sie beruhigte sich. Ich erfuhr, daß Uschi in eine andere Stadtteil-Bibliothek gewechselt war. Hier verwischt sich die Spur. Belassen wir es also dabei.
© Bernd Mai – Leipzig und Eisenberg, 1987 & 2001