Verkleiden
ein Feuilleton
von Bernd Mai
(Anmerkungen am Ende des Textes)
In der Wohnung meiner Eltern in der Hohen Straße in der Leipziger Südvorstadt gab es einen riesigen eingebauten Wandschrank, in dem alte und abgetragene Jacken, Mäntel, Kostüme, Schuhe, Hosen und Kleider aufbewahrt wurden. In meiner Erinnerung sind die Kleidungsstücke alle von unbestimmt-grauer Farbe. Ihr Material ist derb und rauh, besonders die Mäntel und Jacken sind aus hartem und widerspenstigem Stoff gefertigt. Strickjacken und Pullover riechen streng nach Stumpen und längst verstorbenen Verwandten. Ich war ein kleiner Junge, und war das Wetter schlecht und war meine Mutter nicht zu Hause, dann liebte ich es, den Schrank zu öffnen und in die alten Kleidungsstücke zu schlüpfen. Neben dem Schrank stand eine Flurgarderobe mit einem großen Spiegel, die mein Vater selbst gebaut hatte. Er selbst ist kein Hüne gewesen, und deshalb war der Spiegel in einer Höhe angebracht, die auch für einen kleinen Jungen passend war. Ich zog ein zweireihiges Jackett an und stülpte mir einen speckigen Hut auf den Kopf. Dann holte ich aus dem Schreibtisch meines Vaters seine Tabakspfeife, die er statt der Stumpen ab und zu rauchte, und klemmte sie mir zwischen die Zähne. Der Schreibtisch war stets abgeschlossen, aber ich hatte eine Methode gefunden, das einfache Schloß unbemerkt zu öffnen und wieder zu verschließen. So kostümiert stolzierte ich vor dem Spiegel auf und ab und brummelte dabei „Ich bin der Maimil, ich bin der Maimil!“ vor mich hin. Mein Großvater hatte Emil – Mai-Emil im Jargon seiner Heimat – geheißen, und ich habe ihn nie kennengelernt. Auf dem Nachttisch meines Vaters stand ein Foto, das den Opa als alternden Mann zeigte. Auf dem Bild trägt er einen dunklen Zweireiher mit einem großen starren Kragen, der hoch geschlossen ist. Man kann gerade den großen Knoten seiner gestreiften Krawatte sehen. Sein graues Haar ist nach alter deutscher Mode über den Ohren kurz geschoren. Am linken Revers ist das Bändchen des Verwundetenabzeichens aus dem Ersten Weltkrieg zu erkennen.
Das Haus, in dem wir wohnten, war ein gutbürgerliches Wohnhaus aus der Gründerzeit. Statt eines Hinterhauses gab es eine kleine Fabrik, in der noch in den fünfziger Jahren Essenzen für Liköre und Limonaden hergestellt wurden. Herr Lehmann, das Faktotum der Firma, brachte die fertigen Produkte in großen Korbflaschen auf einem zweirädrigen Plattenwagen zum Bayerischen Bahnhof zum Versand. Manchmal begleiteten wir ihn dabei, der Bahnhof lag nur zwei Querstraßen entfernt, und wir beobachteten neugierig den Vorgang der Frachtgutaufgabe. Herr Lehmann wuchtete die schweren Korbflaschen auf die Rampe, und ein Bahnbediensteter mit einem blanken Schild an der Uniformmütze klebte säuberlich einen Zettel auf jede Flasche. Dann kam ein zweiter Bediensteter, dessen Mützenschirm mit blauem Stoff bezogen war, der die Flaschen mit einer Sackkarre in das Lager brachte. Herr Lehmann unterschrieb mehrere Papiere und hakte seine Liste ab. Manchmal stahlen wir uns in das Lager und bestaunten im fahlen Dämmerlicht des Lagers die Fülle aus Kisten, Ballen, Koffern, Körben und „unseren“ Flaschen. Auf dem Rückweg nahm Herr Lehmann die leeren Flaschen, die die Kunden zurückgesandt hatten, wieder mit. Manchmal gab es nichts mitzunehmen, und wir durften uns auf den Plattenwagen setzen. „Halded Eich ooch feste, nu?“ rief Herr Lehmann. Und dann zog er uns nach Hause. Es gehörte zu Herrn Lehmanns Aufgaben, das Heizhaus der Fabrik zu versorgen. Die Wärme brauchten sie, um das Obst, den Rohstoff für die Essenzen, auszukochen und zu destillieren. Herr Lehmann trimmte die Kohlen und und entsorgte die Asche, und manchmal schauten wir ihm dabei zu. Er war über und über tätowiert. Im Sommer trug er zur Hose nur ein ehemals weißes Turnhemd, und wir bestaunten ehrfürchtig seine Muskeln und die Tätowierungen. „Der is emma zor See gefahrn“, sagte ein größerer Junge kennerhaft, während er begeistert auf die Meerjungfrauen, Delfine und Seesterne auf Herrn Lehmanns Schultern zeigte.
Zur Apfelerntezeit stellten die Fabrik eine Schar von Saisonarbeiterinnen ein. Das Obst wurde mit Pferdefuhrwerken herangekarrt und auf unserem Hof vor einem Freidach auf den Boden gekippt. Herr Lehmann stellte unter dem Freidach lange Tische und Bänke auf. Wenn wir uns früh gegen dreiviertel acht auf den Weg zur Schule machten, waren die Arbeiterinnen schon dabei, den Äpfeln mit ihren Küchenmessern zu Leibe zu rücken. Sie zerschnippelten sie und warfen die Apfelspalten in große Holzbottiche, der Kretsch kam auf einen anderen Haufen. Dort lag der Abfall ein paar Tage, und er begann zu gären und einen strengen Duft zu verströmen. Kamen wir gegen vierzehn Uhr nach Hause, waren sie immer noch beschäftigt. Der Obsthaufen war kleiner geworden, der Abfallhaufen umso größer, und das fröhliche Geschnatter der Frauen hatte merklich nachgelassen. Es war Herrn Lehmanns Aufgabe, die Apfelstücke in das Gebäude der Fabrik zu bringen, wo sie weiterverarbeitet wurden. Bei schönem Wetter zog Lehmann vor den Frauen eine richtige Show ab. Er präsentierte seine Tätowierungen und seine Muskeln, und er vollführte mit den schweren Bottichen verschiedene Kunststücke. Die Frauen begannen verschämt hinter vorgehaltener Hand zu kichern und zu prusten. War die Kampagne vorüber, fuhr Herr Lehmann den stinkenden Abfall mit einer Schubkarre ins Heizhaus, wo er ihn verbrannte. Für uns Kinder war das Heizhaus tabu, aber manchmal erhaschten wir einen Blick durch das offene Tor. Lehmann schaufelte mit einer riesigen Schippe abwechselnd den Abfall und Braunkohlen ins Ofenloch. Der Widerschein der Flammen leuchtete rot auf seinem verschwitzten nackten Oberkörper, und die Fabelwesen auf seiner Haut tanzten Boogie.
Im Erdgeschoß unseres Hauses war das „Bureau“ der Essenzenfabrik „Trepte und Ferko, Nachf.“ untergebracht. Der Zusatz „Nachf.“ beschäftigte lange meine Phantasie. Chefs der Firma waren die Brüder König. Wir unterschieden den alten und den jungen König. Während der alte ein leutseliger weißhaariger Patriarch war, der uns Kinder schon mal an Reagenzgläsern nippen ließ, um unsere Meinung zu seiner neuesten Kreation zu hören, hatten wir vor dem jungen einen Heidenrespekt. Wir nannten ihn den „Kinderfresser“. Der junge König trug stets einen grauen Kittel, während der alte immer in einem weißen herumlief. Man sagte, sie seien die Eigentümer des Hauses, aber in Wirklichkeit waren die Besitzverhältnisse völlig unübersichtlich und die Erben waren zerstritten. Als ich das letzte Mal in der Hohen Straße gewesen bin, stand das Haus noch immer wie eine Insel in seinem alten Zustand im Meer der neuen Prosperität.
Auf dem geräumigen Dachboden gab es wunderliche Dinge zu bestaunen, zum Beispiel einen Räucherofen, der schon lange nicht mehr benutzt wurde, aber der bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein einen merkwürdigen süßlichen Duft verströmte. Ich habe mich stets ein wenig davor geekelt. Die Vormieter unserer Wohnung hatten in unserer Bodenkammer einige ihrer Besitztümer zurückgelassen. Dazu gehörte, neben einem Gemälde, das das Haus und die Fabrik zeigte, eine kleine Truhe, die Faschingskostüme für Kinder enthielt. Das Gemälde zeigte das Haus ganz allein in einer sonst völlig unbebauten Landschaft, und die Staffagefiguren, die überall auf Wegen herumwuselten, trugen Biedermeierkostüme. Der Bayerische Bahnhof ist 1842 in Betrieb genommen worden, und das würde zum Gemälde passen.
Eines der Kostüme bestand aus einem Rokoko-Kavaliersrock und einem Dreispitz. Meine Mutter überredete mich, es zum Schulfasching zu tragen. Wenn man mich fragte, was ich sei, sollte ich antworten: „Ein Prinz“ – na vielen Dank ooch! Mein Bruder bastelte mir aus Teilen eines alten Messingleuchters einen Degen, der meine Männlichkeit aufwerten sollte und mich versöhnlich stimmte. Das Jäckchen paßte nicht, es war zu klein, der Dreispitz drückte ganz fürchterlich. Der Degen ging kaputt, als ich ihn gegen einen Piraten gebrauchte, der eine Prinzessin belästigte, und ich holte mir ein blaues Auge. An den Ärmeln der Jacke waren zierliche Spitzenjabots angebracht, die ich mit der Marmelade aus dem Pfannkuchen, den jedes Kind bekam, beschmiert. Als ich mich bückte, zerriß die Rückennaht der Jacke. Das kleine Geschenk, das ich als Auszeichnung für das schönste Kostüm bekommen hatte, konnte mich über die Demütigungen nicht hinwegtrösten.
Zum Ende August eines jeden Jahres fand das Tauch’scher oder Tauch’sche statt. Wir sagten „Tauchschorrn“ und hatten keine Ahnung, daß es etwas mit dem Leipziger Vorort Taucha zu tun hatte. Die Kinder verkleideten sich als Räuber und Schambambel, als Trapper und Indianer. War es eine Tradition? Ein Stadtfest? Ein Kinderfest? Oder bloß eine Gelegenheit, Massenkeilereien zwischen den Kindern und Jugendlichen verschiedener Straßen anzuzetteln? Von allem etwas. Ich hatte auch einen Indianerstutz, ein Skalpmesser und ein Tomahawk, aber um an den Keilereien teilzunehmen, war ich zu klein. Die natürlichen Feinde der Kinder der Hohen Straße waren die der Sidonienstraße, von allen nur „Siddsche“ genannt. Unsere großen Brüder ängstigten uns mit schauerlichen Berichten von Entführungen, Quälereien und Folterungen durch „de Siddsche“. Wenn der Schreckensruf „De Siddsche gommd!“ durch die Höfe hallte, brachten die großen Mädchen die kleinen Jungs schnell in Sicherheit. Zu recht, wie ich später erfuhr.
Die allgemeine Lust an Fasching, Karneval und Verkleidung, die in den fünfziger Jahren offiziell gefördert wurde, ließ in den sechziger Jahren rapide nach und erstarb irgendwann völlig. Nur die Studenten der Universität und der Hochschulen von Leipzig kümmerten sich nicht darum. Berühmt-berüchtigt war der Fasching der Bauhochschule, erst unter Insidern und dann offiziell „BaHu!“-Fasching genannt. Anfang der siebziger Jahre, ich hatte gerade meine Verkleidungsperiode in Feldgrau hinter mir, lud mich ein Freund zum BaHu-Fasching ein. Ich dachte an meinen Auftritt als Rokoko-Kavalier, hatte keine Lust und druckste herum. Dann fiel mir ein, das ich ein paar Utensilien aus einer anderen, vorhergehenden Verkleidungsperiode noch immer in meinem Kleiderschrank zu liegen hatte. Ein weißes Matrosenhemd mit Kieler Kragen und eine Matrosenmütze mit weißem Bezug, auf dessen Band „Fischkombinat Rostock“ gestickt war. Der Kulani und die Schlaghose mit dem typischen Hosenlatz waren mir irgendwann abhanden gekommen. Das Hemd war zwar ein wenig eng geworden, aber ich nahm die Einladung an, und wir fuhren den langen Weg nach Markkleeberg, wo der Fasching in der Parkgaststätte auf dem Gelände der AGRA stattfand. Tanz in allen Sälen, Rambazamba auf allen Treppen, Bars in jeder Nische und jedem Separee, überall dunkle Ecken, in denen man herumknutschen konnte. Ich war Anfang zwanzig, und ich hatte keine Freundin. Mein Testosteronspiegel schaltete meinen Faschingsunwillen einfach ab. Die Mütze verlor ich bald im Gedränge und ich fand sie nicht wieder. Ein hübscher draller Fliegenpilz schüttete mir ein klebriges rotes Getränk über das weiße Matrosenhemd. Ich forderte Schadenersatz, den er mir willig gewährte. Mein Freund war verschwunden, und ich brachte den Fliegenpilz nach Hause. Er wohnte in Wahren, und ich war erst früh gegen halb sechs zu Hause. Ich wohnte bei meinen Eltern, und ich vergesse das Gesicht meiner Mutter nicht, als sie mir die Tür öffnete. Den Fliegenpilz traf ich noch zwei, drei Mal. Aber irgendwann tauchte ein schneidiger Unterleutnant der Luftstreitkräfte auf, und ich hatte keine Lust, mich mit ihm anzulegen.
Ich besuchte später noch diesen und jenen Fasching, aber nicht, um mich karnevalistisch zu amüsieren, sondern um Mädels kennenzulernen. Und ich verkleidete mich auch nicht mehr. Ich zog einfach ein altes kariertes Hemd an und band mir ein buntes Tuch um den Hals oder um den Kopf. Das Hemd trugen wir über der Hose, lange bevor es allgemeine Mode wurde. Dieses Outfit war in den siebziger Jahren die von allen akzeptierte Uniform der Leipziger Karnevalisten. Der Zusammenhang zwischen Uniform und Faschingsverkleidung war mir damals nicht bewußt. Manchmal setzte ich eine Halbmaske auf, aber auf den Faschingsveranstaltungen der Bauhochschule und der DHfK kannte mich sowieso niemand. Nachdem ich ein Abendstudium begonnen, geheiratet und eine Familie gegründet hatte, hatte sich das Kapitel von selbst erledigt, und ich vermißte nichts.
Zu Beginn der achtziger Jahre, ich arbeitete in einem großen städtischen Baubetrieb, schickte man mich für sechs Wochen zu einem Lehrgang nach Berlin – Hauptstadt. Ich sollte den Umgang mit SKR, der neuen Generation von ROBOTRON-Computern, erlernen. Der Abschluß des Lehrgangs fiel in die Faschingszeit. Ein paar vergnügungssüchtige Lehrgangsteilnehmer aus Thüringen schlugen vor, die Abschlußveranstaltung als Fasching in der Kantine des Lehrgangsveranstalters abzuhalten. Den Namen des Betriebes habe ich vergessen. Ich hatte die fünfte Woche zu Hause verbracht, weil meine Frau krank geworden war, und ich die Kinder versorgen mußte. Zum Beginn der sechsten Woche stieß ich wieder zu meinen Lehrgangskollegen. Meine Banknachbarin Doris, eine hübsche dralle Blonde vom VEB MAB Schkeuditz bei Leipzig, hatte getreulich die Unterrichtsveranstaltungen für mich mitgeschrieben. Am Abend saßen wir in ihrem Quartier, und wir gingen die Unterlagen der Woche gemeinsam durch. Leider war es mit ihrer Begabung für die Informatik nicht weit her, sie hatte bis dahin Buchungsautomaten aus Sömmerda programmiert, und wir beendeten bald das traurige Spiel. Ich hatte zum Dank ein paar Pralinen und eine Flasche Wein besorgt. Sie schlug vor, den Wein gemeinsam zu trinken, und ich hielt das für eine gute Idee. So erfuhr ich von den Plänen der Thüringer. Mir fiel ein, daß sie vom VEB Wintersportgerätewerk „Favorit“ Wasungen waren, und ich schüttelte den Kopf. Wir begannen zu beratschlagen, wie wir auftreten sollten. Sie wüßte schon, was sie anziehen würde, sagte Doris. Sie strahlte und ihre Augen blitzten. Oder war es nur der Widerschein der sparsamen 15-Watt-Glühlampe in ihrem Weinglas? Ich war ein wenig lüstern und stellte sie mir als Haremsdame vor. Aber wir vertieften das Thema an diesem Abend nicht. Als wir die Weinflasche geleert hatten, fuhr ich mit der S-Bahn zurück in die Ho-Chi-Minh-Straße in meine Quartier, das ich mit zwei Kollegen aus Radebeul bei Dresden teilte.
Der nächste Tag im Lehrgang war der Wiederholung und der Auffrischung gewidmet, die letzten Stunden hielten wir ein Kolloquium ab. Bei mir gab es nichts aufzufrischen, ich hatte das Prinzip des Betriebssystems MOOS begriffen und meine Mitschriften waren ausführlich und genau. Auch Doris hielt sich zurück. Aber sie hatte den Sinn des Lehrgangs sowieso nicht verstanden. Die Wasunger planten flüsternd den Fasching. Die anderen aber überhäuften den Lehrgangsleiter, der immer unwilliger wurde, und seine Dozenten mit Fragen. Die Arbeit mit einem richtigen Betriebssystem war für uns alle etwas Neues. Einer der Dozenten begann Programmablaufplan-Symbole an die Tafel zu zeichnen. Auf die andere Tafel schrieb er, wie der Kommando-Ablauf zum Kopieren von Dateien auf ein Magnetband auf dem Monitor aussehen würde. Die Computerpraxis sollte erst in einem zweiten Lehrgang vermittelt werden, aber wegen Lieferengpässen wurde nichts daraus. Das brachte mich auf eine Idee. Nach dem Unterricht schlenderte ich noch einmal über den Alexanderplatz. Ich betrat das dortige CENTRUM-Warenhaus und erstand ein einfaches hellgraues Freizeithemd aus Baumwolle. In der Spielwarenabteilung kaufte ich ein paar Becher Plakatfarben – schwarz, rot, blau und giftgrün – und zwei Pinsel und am Tabakstand eine Flasche Nordhäuser. Dann fuhr ich zurück in mein Quartier. Ich aß zum Abendessen eine Butterstulle und nahm ein paar Korn dazu. Dann räumte ich den Tisch ab und bedeckte ihn mit Seiten des „Neuen Deutschland“ von gestern. Ich breitete das neue Hemd auf dem Tisch aus, stellte die Plakatfarben und einen Becher mit Wasser und ein Glas Vita-Cola dazu, mischte mir einen Korn in die Cola und begann mein Werk. Ich bemalte das Hemd mit verschiedenen Promptern, Symbolen von Peripheriegeräten und Speichermedien, und ich schrieb ein paar einfache Kommandos des Dienstprogramms PIP auf Brust und Hintern. Ich begutachtete mein Werk und brachte hier und da eine Korrektur an. Als meine Zimmerkameraden kamen, hatte ich längst aufgeräumt und mein Faschingshemd zum Trocknen auf die Toilette gehängt. Ich lud sie zu einem Schnaps ein, und als die Flasche geleert war, gingen wir schlafen.
Die Wasunger hatten sogar einen Schallplattenunterhalter aufgetrieben. Aber der hatte zum Glück keine Faschingsschlager auf dem Teller, sondern lauter Rockballaden und schräge Nummern von „Silly“ und „Karat“. Ab und zu legte er einen Berliner Stimmungsschlager auf, aber das nahm ich gern in Kauf. Ich legte mit Doris, die als Piroschka verkleidet war, zu „Komm, Karlineken …“ eine flotte Polka aufs Parkett, und auch bei „Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion …“ führten wir den Rheinländer an. Man hatte ein kleine Bar improvisiert. Nach jedem Tanz begab ich mich mit Doris an die Bar, und wir begossen unsere neue, wunderbare Freundschaft. Der Wasunger, der die Bar managte zeigte auf mein Faschingshemd.
„Gehst Du als SKR-Rechner?“, fragte er.
„Nein“, sagte ich.
„Was dann?“
„Ich bin die Idee eines neuen Zeitalters.“
„Hä?“
Er schüttelte den Kopf und bediente einen meiner Zimmerkollegen, der eine rassige schwarzhaarige Magdeburgerin vom SKET beturtelte. Ich hob mein Glas und zwinkerte ihm zu. Er zwinkerte zurück. Ich widmete mich wieder Doris. Als der Schallplattenunterhalter „Am Fenster“ auflegte, gingen wir wieder auf die Tanzfläche. Es war der längste Tanz meines Lebens, und er hatte weitreichenden Folgen. Aber das ist eine andere Geschichte …
Anmerkungen:
Herr Lehmann – Herr Lehmann ist niemals zur See gefahren, wir Kinder hatten keine Ahnung von der Subkultur im Knast.
Kinderfresser – der junge König vertrieb uns regelmäßig unter Fluchen und Schimpfen aus dem Hofbereich, der zur Fabrik gehörte, und auf dem das Leergut gelagert wurde; beliebter Spielplatz; später wurde er durch einen hohen Zaun abgegrenzt.
Bayerischer Bahnhof – Der Bahnhof am Bayerischen Platz war bis zu seiner Schließung 2001 der älteste erhaltene Kopfbahnhof Deutschlands; andere Quellen sprechen vom ältesten noch erhaltenen Kopfbahnhof der Welt. Teile des Bahnhofs wurden denkmalgerecht erneuert.
Tauch’sche – in der Stadt Taucha vor den Toren Leipzigs wurde nach 1990 das Fest wiederbelebt; es geht in seinem Ursprung wahrscheinlich auf die Rivalität der Städte Taucha und Leipzig zurück, die im Mittelalter noch ungefähr gleich groß waren.
Bauhochschule – heute: Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK)
Kulani – Traditionelle Matrosenjacke; Bestandteil jeder Seemannsuniform.
AGRA – Zentrale Landwirtschaftsausstellung der DDR in Markkleeberg bei Leipzig.
Parkgaststätte – Großes Restaurant mit mehreren Sälen, Cafés, Milchbars usw. auf dem Gelände der AGRA.
Markkleeberg – Vorort ganz im Süden Leipzigs
Wahren – Stadtteil ganz im Norden Leipzigs
DHfK – Deutsche Hochschule für Körperkultur, Kaderschmiede des DDR-Sports; heute eine Fakultät der Universität.
Berlin–Hauptstadt – In der DDR offizielle Sprachregelung, um Ostberlin von Westberlin (Berlin (West)) abzugrenzen.
VEB – Volkseigener Betrieb; Unternehmensform in der DDR.
MAB Schkeuditz – Maschinen- und Anlagenbau Schkeuditz bei Leipzig.
ROBOTRON – das Kombinat ROBOTRON war in der DDR der alleinige Hersteller von Computern, Peripheriegeräten und Software. Man konnte den Bedarf nicht befriedigen. Deshalb sprangen für die Ausbildung der Informatiker oft branchenfremde Betrieb in die Breche und organisierten Lehrgänge und dergleichen. Das Ergebnis war manchmal entsprechend.
Buchungsautomaten aus Sömmerda – Elektromechanische Buchungsautomaten können als Vorläufer moderner Computer gelten; die Geräte aus Sömmerda (Thüringen) mit einem hohen technischen und qualitativen Standard waren weltweit begehrt und ein großer Exportschlager der DDR; in den 70er Jahren waren sie aber, auch im Ostblock, moralisch längst verschlissen (technisch überholt).
Wasungen – Stadt in Thüringen im Kreis Schmalkalden-Meinigen, in der DDR Bezirk Suhl („Freie Gebirgsrepublik“); Karnevalshochburg Ostdeutschlands.
Ho-Chi-Minh-Straße – Straße in Berlin-Lichtenberg; Plattenbausiedlung; heute: Weißenseer Weg.
Neues Deutschland – Zeitung in der DDR; Zentralorgan der SED.
SKR – Minicomputersysteme von ROBOTRON; basierten auf dem berühmten PDP 11 von DEC.
MOOS – Betriebssystem der SKR-Rechner; basierte auf dem System RSX 11 von DEC.
PIP – Peripheral Interchanging Program; ein Dienstprogramm des RSX-Systems, Datei-Verwaltungs-Programm; es konnte u. a. zum Auffinden, Löschen und Kopieren von Dateien benutzt werden.
SKET – Schwermaschinenbaukombinat „Ernst Thälmann“ Magdeburg.
Schallplattenunterhalter – Offizielle Bezeichnung für Disk-Jockeys in der DDR.
© Bernd Mai Leipzig & Wettin-Löbejün Feb. 2013
….. „Bericht“ .. fehlte 😉
Ich werde beim nächsten Anführungszeichen benutzen, damit du weißt, dass ich weiß, dass Fouilleton über deiner Geschichte steht 😉
Du hast eine „gute Schreibe“ man sieht die Leute beim Lesen direkt vor sich. Bin auf die nächste Erinnerungsgeschichte gespannt.
Schön, daß es Dir gefallen hat. Danke, Meine.
Aber mit der „Erinnerungsgeschichte“ ist das so eine Sache …
Vergiß bitte nicht, daß „Feuilleton“ darübergeschrieben steht. Auch das ist „nur“ Literatur.