Der Radfahrer

Der Radfahrer 

von Bernd Mai

  

Vor meinem Fenster verblaßt endlich die fahle Morgendämmerung. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Dann schaue ich nach dem Wetter und nach der Temperatur, und ich nicke zufrieden. Ich ziehe meinen Sportdreß an. Er besteht aus einer ausgebeulten Jogginghose und einer roten Kapuzenjacke, beide alt und abgetragen. Ich wickle eine Baumwollwindel zusammen und binde sie mir als Schweißtuch um den Hals. Ein paar alte Sandalen vervollständigen mein Outfit.

Ich tue das alles zügig und ohne nachzudenken, das Nachdenken würde meinem inneren Schweinehund Auftrieb geben. Ich stecke den Fahrradcomputer in die Jackentasche, greife Schlüssel und Helm und verlasse die Wohnung. Die fünf Etagen hinab versuche ich locker und zügig zu steigen, die Kniegelenke schmerzen wieder. Auf der Treppe zur ersten Etage reiße ich mich besonders zusammen. Hier wohnt die hübsche Frau Möhring, und es könnte ja sein, sie kommt oder geht gerade. Oder sie schaut einfach mal so aus der Tür, wie sie es manchmal tut, und sie läßt sich gern auf eine Plauderei ein. Heute ist Dienstag. An den Dienstagen hat sie immer ihren kleinen Enkelsohn da, um ihn zu betreuen. Also, du alter Sack, kneif den Hintern zusammen, befehle ich mir. Ich bin auf dem Weg zum Erdgeschoß, und ich schaue verstohlen zurück. Aber im Treppenhaus bleibt es still. Ich will mir die leise Entteuschung nicht eingestehen, zumal ich weiß, daß sie seit Langem eine feste Beziehung hat, sie hatte sie schon, als sie hier einzog. Der Kerl ist schlank, sieht gut aus und ist bestimmt zehn Jahre jünger als ich. Und er fährt ein Auto, das doppelt so groß ist wie meins.

Ich trage mein Fahrrad aus dem Keller hinauf nach oben, und ich verstehe, warum Leistungssportler sich vor dem Wettkampf aufwärmen müssen. Die Knie schmerzen jetzt weniger. Ich stöpsele den Fahrradcomputer in seine Halterung und setze den Helm auf. Der fette Kater der Frau Pöppel aus dem Erdgeschoß blitzt mich wütend an. Auf dem Weg vor der Haustür liegen ein paar Hühnerknochen, aber irgendwann werden die Ratten die Knochen verschleppen, und dann sind sie weg. Ich steige behäbig aufs Rad und trete in die Pedalen. Nach zehn Metern komme ich in Fahrt, und wir sind mal wieder unterwegs.

Ich kaufte das Rad in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre im Konsument-Warenhaus am Brühl. Wir nannten es wegen seiner Aluminiumverkleidung die Blechbüchse. Ich hatte einen Stadtbummel gemacht und streifte abschließend durch das Kaufhaus. Hätte ja sein können, es gab etwas. Man hatte mir heute fünfhundert Mark Neuerervergütung ausgezahlt. Ich hatte mit meinen Kollegen im Kaffebaum ein paar Bier getrunken und war unternehmenslustiger als sonst. Ich schlenderte durch die Sportabteilung, und plötzlich bekam ich Stielaugen. Da standen vier MIFA-Sporträder, die einfachste Ausführung ohne Gangschaltung und irgendwelche anderen Extras, sauber nebeneinander ausgerichtet. Sie glänzten mit ihrem grünen Hammerschlaglack im Neonlicht. Weit und breit war kein anderer Käufer zu sehen, und die Verkäuferinnen machten gerade Kaffeepause. Durch eine angelehnte Tür hörte man Gesprächsfetzen, und man nahm den Kaffeeduft wahr. Ich wohnte damals in Gohlis und meine Arbeitsstelle befand sich in der Innenstadt, in einem denkmalgeschützten Gebäude am Markt. Mein Weg zur Arbeit war komfortabel, mit der Linie 24 fuhr ich fast von Tür zu Tür. Seit einiger Zeit fühlte ich mich nicht mehr wohl, mein Übergewicht forderte seinen Tribut und beim Treppensteigen mußte ich in jeder Etage stehen bleiben und nach Luft schnappen. Ich strich um die Fahrräder herum. Dreihundertsiebzig Mark. Ein stolzer Preis, wie ich fand. Ich ließ die Räder links liegen und schlenderte weiter durch die dritte Etage. In der Rundfunkabteilung boten sie immer noch den großen Schwarzweiß-Fernseher auf Kredit an. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich einen gekauft. Ich begutachtete die Radio-Kassettenrekorder und schüttelte den Kopf. Achthundert Mark kostete das Gerät von RFT der unteren Klasse. Nein, dachte ich, heute nicht. Das könnte ein Fall für die Jahresendprämie sein. Ich ging zurück in die Sportabteilung und baute mich wieder vor den Fahrrädern auf. Neben der Kasse standen jetzt zwei Verkäuferinnen. Sie setzten ihr Gespräch aus der Kaffeepause fort und beachteten mich gar nicht. Ich umrundete die Reihe der Räder, blieb wieder beim ersten Exemplar stehen und strich mit der Hand über den Sattel. Es war ein schmaler Sportsattel. Er hatte keine richtige Federung und er fühlte sich hart und unbequem an. Man könnte einen Tourensattel kaufen und ihn austauschen, sinnierte ich. Die Verkäuferinnen nahmen weiterhin keine Notiz von mir. Jetzt packte mich der Schalk und ich betätigte die Klingel, erst nur leicht, um sie auszuprobieren. Der Klingelton war fein und hell. Er gefiel mir. Ich schielte zu den Verkäuferinnen hinüber, aber die blickten nicht mal auf. Dann drückte ich heftig und ausdauernd den Hebel, und das Klingeln schien durch das ganze große Warenhaus zu schallen. Ich erschrak selbst. Eine der Verkäuferinnen kam auf mich zu. Ihr Gesicht und ihre Körperhaltung drückten Abscheu und Widerwillen aus. Wenn sie meckert, hau ich ihr eine rein, dachte ich in meinem Schwips, und ich machte mich auf eine Auseinandersetzung gefaßt. Es gab keine Auseinandersetzung, und einige Minuten später verließ ich das Kaufhaus.

Ich überquerte die Fußgängerbrücke zur Pfaffendorfer Straße, und das Rad schob ich neben mir her. Die Pfaffendorfer Straße hieß damals noch Dr.-Kurt-Fischer-Straße, und es ist ein langer Weg nach Gohlis. Aber weil ich viele Jahre nicht mehr Rad gefahren war, traute ich mich nicht, das Gefährt sofort zu besteigen und nach Hause zu strampeln. Also ging ich zu Fuß. Als ich am Zoo war, begann es zu regnen. Ich stellte mich im Eingang zum Weißen Saal unter, und ich beobachtete die wenigen Passanten, die aus dem Zoo kamen und zur Haltestelle hasteten. Die Bahn war voll, ihre Scheiben waren beschlagen, und man konnte die Menge der Fahrgäste nur undeutlich wahrnehmen. Nun, sie hatten es wenigstens trocken, und ich erhielt eine erste Lektion in Sachen Radfahren und Wetterunbilden. Der Regen hörte nicht auf, aber er wurde schwächer. Als es nur noch nieselte, marschierte ich weiter. Als ich zu Hause im Kirchweg ankam, war ich völlig kaputt und pitschnaß, aber sehr zufrieden.

Ich begann mit ein paar Übungen abends in meiner Straße, umrundete die kleine Grünanlage nebenan, und zum Einkauf am Samstag fuhr ich mit dem Rad zur Konsum-Verkaufsstelle. Ich hatte den Sattel gewechselt, ein Regencape gekauft und ich hatte mir eine praktische Packtasche besorgt, die ich am Gepäckträger bequem an- und abhängen konnte. Ich brachte das Rad meiner Frau in Ordnung, und am verkehrsarmen Sonntag machten wir die erste längere Tour zu einer Katzenausstellung nach Markkleeberg. Meine Frau war ein Katzennarr. Von da an bewältigte ich meinen Weg zur Arbeit und die meisten anderen Wege mit dem Rad, und nach einigen Wochen schon begann sich mein Allgemeinzustand zu verbessern.

Im Sommer 1989 zogen wir in eine Plattenbausiedlung am östlichen Stadtrand von Leipzig. Das Radfahren zur Arbeit mußte ich aufgeben. Im Laufe des Jahres 1990 nahm die Verkehrsdichte schlagartig zu, und es wurde zu gefährlich. Dann stand das Rad jahrelang in meiner Kellerbox. Einem eher zufälligen Einfall folgend ließ ich es irgendwann mit einer Torpedo-Gangschaltung aufrüsten und ich benutzte es wieder ab und zu, aber selten, und dann gar nicht mehr.

Dann kam das Jahr, in dem ich depressiv wurde. Ich wohnte immer noch in meiner Plattenbauwohnung, aber allein, und ich war arbeitslos und litt unter dem Nichtstun, und meine Konstitution war restlos hinüber, und eine langjährige Beziehung war zu Ende gegangen, und mein Selbstvertrauen war völlig im Eimer. Ich lümmelte in meinem Sessel herum, süffelte Bier und beobachtete im Fernsehen, wie ein paar erwachsene Männer sich mühten, mit dem Fahrrad einen steilen Berg hinaufzufahren. Die Straße, eigentlich nur eine schmale und holprige Piste, war von Hunderten Zuschauern gesäumt, die frenetisch brüllend die Fahrer anfeuerten. Der Berg mußte sehr hoch sein, es gab keine Bäume und keine Büsche, alles war kahl, und es blies ein ungemütlicher Wind, und die Fahrer trugen Regenjacken, und ihre Gesichter waren von der Anstrengung verzerrt, und manchmal gingen sie aus dem Sattel, um im Wiegetritt zu fahren, und sie gönnten sich kein Verschnaufen, und sie warfen ihre leergetrunkenen Labeflaschen achtlos an den Straßenrand, und die Kamera ließ erst von der Fahrergruppe ab, als sie den Scheitelpunkt der Bergstraße erreicht hatte und die Fahrer sich zur Abfahrt bereitmachten. Ich atmete auf. Mein Gott, wieso quälen die sich so, fragte ich mich, und ich überlegte, wie ich wohl an diesem Berg ausgesehen hätte, und mir schauderte. Gar kein Vergleich, du Dussel, dachte ich weiter, und mein Selbstschutzmechanismus begann zu greifen. Du bist Ende fünfzig. Die Kerle dort sehen aus wie Ende dreißig, und sie sind erst Mitte zwanzig, und in fünf Jahren sind sie erledigt, und sie können froh sein, wenn sie fürs Alter vorgesorgt und für ein Sportgeschäft gespart haben. Und mir fiel ein, daß einer der Schur-Söhne in Magdeburg ein Fahrradgeschäft betreibt, in dem der alte Täve schon mal aushilft, und daß die Jungs und auch die Tochter nie die Klasse des Alten erreicht hatten. Mann, Mann, Mann, der Gustav Adolf Schur! Alle Welt nannte ihn „Täve“, und als Kind hatte ich ihn bewundert, jeder hatte ihn bewundert. Ich klebte mit den Ohren am Rundfunkempfänger, wenn die Friedensfahrt im Original übertragen wurde. Jede Meldung über die Positionen unserer Fahrer wurde mit der Friedensfahrt-Fanfare angekündigt, und wenn ich sie gelegentlich heute höre, läuft mir noch immer ein Schauer über den Rücken. Und ich erinnerte mich daran, wie meine Mitschüler und ich mit einhunderttausend anderen, das Stadion war rappelvoll, die Etappenankunft in Leipzig feierten und jubelten, und wie der Fahrer im weißen Trikot mit dem schwarz-rot-goldenen Brustring auf der letzten Stadionrunde noch einen Polen und einen Belgier überspurtete und als Sieger über den Zielstrich fuhr. Seinen Namen habe ich vergessen, kann sein, er hieß Ampler oder Weißleder, aber für uns Kinder war eben jeder Fahrer mit dem weißen Trikot ein „Täve“. Später wurden die Trikots silbergrau, und statt des Brustrings trugen die Fahrer das Staatswappen auf der Brust. Aber die Faszination dieser Fahrt und dieser Sportler hat sich bis heute erhalten. Über das Ende des Staates hinaus, für den sie ein Aushängeschild gewesen sind.

Die Übertragung ging zu Ende. Irgendein Fahrer beliebiger Nationalität irgendeiner Mannschaft gewann die Etappe der Tour de France, und irgendein Reporter verabschiedete sich von den Zuschauern. Einige Tage später saß ich wieder vor dem Fernseher. Ich sah mir die Übertragung einer weiteren Etappe an. Es war keine Bergetappe, sie fuhren durch eine weite französische Ebene, und die Hubschrauberkamera zeigte Ansichten von Schlössern in einer faszinierenden Flußlandschaft, und der Reporter gab Episoden aus Geschichte, Wirtschaft und Kultur der Region zum Besten. Er war gut präpariert oder sein Computer war gut gefüttert. Ich grinste, und in diesem Augenblick war die Idee, die seit Tagen in meinem Hinterkopf gehockt hatte, aufgesprungen und hatte mir unversehens eins von innen gegen die Schädeldecke gehauen. Ich stellte mein Bier weg, zog mich um und ging in den Keller. Ich reinigte mein Rad mit einem Lappen, zog alle Muttern und Schrauben nach, pumpte Luft auf die Reifen und rieb den Ledersattel mit Hautcreme ab. Ich probierte die Pedalen, die Bremsen und die Gangschaltung. Dann trug ich das Rad aus dem Keller und fuhr einfach los. Es war mühsam und schon nach wenigen hundert Metern war ich außer Puste. Ich fuhr langsamer, immer den Radwegen nach, und man mußte auf die Fußgänger achtgeben. Ich umrundete mein Wohngebiet, und in meinem Kopf entwickelte sich ein Plan. Seitdem fahre ich zwei bis dreimal die Woche meine Runde ums Wohngebiet. Es gibt hier keine Berge, und überall wurden Radwege angelegt. Je nach Laune, Wetter und Befinden variiere ich die Strecke, und wenn ich eine Steigung einbauen will, fahre ich die, die über die Eisenbahnbrücke führt, und ich kann eine kurze und eine lange Steigung haben, und wenn ich ganz aus dem Häuschen bin, erweitere ich die Tour schon mal auf zwanzig Kilometer. Und alles vor dem Frühstück.

Mit der Zeit rüstete ich weiter auf. Ich ließ hinten die Speichen verstärken und einen voluminöseren Mantel aufziehen. Ich kaufte einen Helm, einen Fahrradcomputer und eine winzige Packtasche für meinen Wohnungsschlüssel, etwas Geld und ein Handy. Man weiß ja nie. Und damit ich immer einen ordentlichen Druck auf den Reifen habe, legte ich mir eine Luftpumpe mit Manometer und zwei Handgriffen zu. Als ich mir jedoch ein quietschgelbes Trikot und ein paar stramm sitzende Radlerhosen mit verstärktem und gepolstertem Zwickel kaufen wollte, griff zum Glück meine Tochter ein: „Aber, Vati!“

Ich fahre langsam aus dem Innenhof meines Wohnblocks in Richtung Straße. Zu dieser frühen Stunde ist sie nicht belebt, aber man muß aufpassen, die Autos sind plötzlich da in den engen und verwinkelten Straßen. Den Projektanten würde ich heute noch einsperren lassen. Bis zum Radweg sind es nur ein paar Meter. Und dann beginnt meine Runde. Ich beäuge die Bäume, um die Windstärke abschätzen zu können. Aber wie meist um diese Zeit schläft der Wind noch, die Zweige bewegen sich nicht. Noch ein Blick zum Himmel, die Straße ist naß, es muß geregnet haben diese Nacht. Aber im Moment besteht keine Gefahr, daß es erneut regnet. Das Einrollen auf dem ersten Streckenabschnitt ist wichtig. Es sagt mir etwas über meine Tagesform. Und ich stelle die ersten Prognosen zum endgültigen Streckenverlauf. Heute läuft es gut, aber man muß abwarten, wie es sich weiterentwickelt, vielleicht kommt ja noch ein kräftiger Wind auf oder es beginnt doch noch zu regnen. Dann kommt die erste Obacht-Stelle: Eine Nebenstraße verläßt das Neubaugebiet und mündet in die breite Allee, und ich als Radfahrer muß die Vorfahrt beachten. Hier wohnen die Besserverdienenden in ihren kuscheligen Keksrollenschlössern, die nach der Wiedervereinigung statt der geplanten Betonburgen gebaut worden sind. Sie kommen mit ihren Audis und Volvos angebraust, denn sie wollen zur Arbeit, und sie wissen, daß sie Vorfahrt haben, und sie beachten den Verkehr auf dem Fuß- und Radweg nicht. Ich bremse und schaue, es ist alles frei, also geht es weiter. Jetzt kommt die Hundepromenade. Der Weg ist in Fußweg und Radweg geteilt, und der Radweg ist deutlich sichtbar mit dunkelroten Formsteinen gepflastert. Das hindert die Hundehalter nicht, ihre Hundeleine quer über den Weg zu spannen, wenn ihr Liebling Lust hat, auf der anderen Seite zu schnüffeln oder seine Marke abzusetzen. Wenn ich dann klingele, und ich muß laut und ausdauernd klingeln, damit sie mich überhaupt wahrnehmen, blitzen sie mich wütend an. Einmal begann eine Dame unflätig auf alle Radfahrer der Welt zu schimpfen, und ich überlegte, ob ich sie über die gültige Straßenverkehrsordnung aufklären sollte. Aber ich ließ es und ich brüllte nur „Du blöde Ziege, du!“, aber ich weiß nicht, ob sie es verstanden hat. Heute begegne ich nur einem alten Mann, der sein Schoßhündchen flugs auf den Arm nimmt, als er mein Keuchen nahen hört. Auch er schaut mich böse an, und in mir steigt ein Groll auf. Aber dann denke ich, daß auch ich bald ein „alter Mann“ sein werde. Das Radfahren wird es nicht verhindern. Als ich fünf Meter weg bin, fängt das Hündchen böse an zu kläffen. Aber das passiert selten, und meist lassen sich die Hunde beim Schnüffeln und Stöbern gar nicht stören. Und manchmal habe ich den Eindruck, daß die Besitzer aufgeregter und emotionaler reagieren, als es ihre Hunde bei meinem Auftauchen ohne sie tun würden. Sie nehmen sie straff an die Leine und weichen auf das Grün neben dem Weg aus. Manche stellen sich vor das Tier, als wollten sie ihm den ekligen Anblick eines verschwitzten Radfahrers ersparen. Ich schaue zuerst auf die Schnauzen der Hunde. Ergrautes Fell läßt auf ein älteres, ruhiges Tier schließen, von dem nichts zu befürchten ist. Kleine agile Hunde mahnen zur Vorsicht, und tragen sie gar einen Maulkorb, mache ich dann doch besser einen Bogen. Aber aus den Augen lasse ich sie nie, denn irgendeiner könnte doch mal auf dumme Gedanken kommen.

Ich nähere mich dem nächsten Obacht-Punkt, einer Straßenbahnhaltestelle an einer Ampelkreuzung. Rechts im Neubaugebiet befindet sich ein Gymnasium, und wenn die Oberschüler mit der Bahn angekommen sind, bilden sie ein Pulk, das sich rituell langsam in Richtung Gymnasium bewegt, und sie blockieren jede denkbare Fläche auf dem Rad- und Fußweg, und sie reagieren auch nicht auf lautes Klingeln, denn das wäre uncool. Aber heute gibt es kein Pulk und keine coolen Gymnasiasten, und ich muß nur auf die Linksabbieger aus der Hauptstraße achten, denn die glauben oft, sie hätten die Vorfahrt, und ich kann das nicht verstehen, denn ich bin selbst Autofahrer und ich kenne die Kreuzung auch aus dieser Perspektive. Ich überquere die Kreuzung im Rösselsprung und bin jetzt auf der anderen Seite der Allee. Und ich habe jetzt eine lange, ruhige und gerade Strecke vor mir und ich muß nur ab und zu auf entgegenkommende Radfahrer oder hin und wider auf ein paar Jogger achten. Bald verspüre ich das erste Mal das Bedürfnis, mir die Nase zu putzen. Ich nehme die Beine hoch, fische nach dem Taschentuch und stelle fest, daß ich keins dabei habe. Ich fluche laut und gotteslästerlich, und ich wische mit dem Jackenärmel über die Nase. Ab und zu werde ich von anderen Radfahrern überholt. Sie rauschen von hinten heran, und ihre Reifen zischen auf dem Asphalt wenn sie vorbeisausen. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß es sich ausschließlich um junge Burschen und Mädels handelt. Von den alten Säcken bin nämlich ich der schnellste! Manchmal kommt mir ein anderer alter Sack entgegen. Er hat allerlei Packtaschen am Rad und ein kleines Radio an seinem Lenker befestigt. Ich verspüre den Wunsch, anzuhalten und ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Es interessiert mich, wohin er fährt, woher er kommt, und was es mit dem Radio am Lenker auf sich hat. Denn ich habe noch nie gehört, daß es eingeschaltet gewesen wäre. Aber wenn ich realisiert habe, daß es wieder mein Freund mit dem Radio ist, sind wir schon aneinander vorbei, und es hat keinen Sinn mehr anzuhalten.

Die Allee krümmt sich nach rechts in Richtung Engelsdorf. Ich überquere die B6, und ich bin froh, wenn die Ampel rot zeigt, denn dann kann ich einen Moment verschnaufen. Ich fahre weiter geradeaus. An der Kreuzung Riesaer Straße biege ich rechts ab und fahre weiter in Richtung Stadt. Jetzt schwitze ich schon ganz erheblich, aber in der Riesaer Straße bin ich windgeschützt, auf der linken Seite sind hohe Zäune und Hecken, und ich habe die Hälfte meiner Strecke hinter mir. Hinter den Hecken liegt eine Siedlung aus den dreißiger Jahren. Man sieht sie nicht, aber ich weiß, daß sie da ist. Manchmal kommen überraschend Leute heraus, und sie achten nicht auf den Radweg. Sie haben es eilig, sie wollen zur Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. Also heißt es wieder „Aufpassen!“, und ich fahre ein wenig langsamer. Vor mir geht eine Frau mit einem Dackel an der Leine. Der Hund ist alt und übergewichtig, er bleibt alle paar Meter stehen, und wenn der Hund stehen bleibt, bleibt auch sein Frauchen stehen. Sie ist schon älter, man sieht es an den weißen Haaren, aber ihre Figur ist noch fraulich und ein wenig üppig. Sie trägt Jeans und einen kurzärmeligen Pulli, und Ihr Gang ist leicht und man merkt, daß sie schneller könnte als der Hund es ihr aufzwingt. Wieder bleibt der Hund stehen, die Frau schaut sich um, und ich erschrecke, aber es ist ein angenehmer Schreck. Sie erkennt mich, und sie lächelt. Ich halte an und steige ab. Es ist Christel, und ich hätte sie am liebsten umarmt, aber das wäre wohl hier und jetzt ein wenig unpassend gewesen. Wir waren lange Zeit Arbeitskollegen gewesen, und wir haben uns vor zwölf Jahren das letzte Mal gesehen. Außerdem hatten wir mal was miteinander. Ich wußte immer, daß sie einige Jahre älter ist als ich, aber ich habe sie nie nach ihrem Alter gefragt. Ihr gehört eins der Siedlungshäuser, und sie ist schon ein paar Jahre in Rente. Ich habe das Gefühl, als hätte sie mich auch gern umarmt, aber wir schütteln uns nur linkisch die Hände. Der Hund schnuppert an meinen Hosen. Wir schauen uns verlegen an, und ich frage nach ihrem Befinden, ihren Kindern und ihrem zweiten Mann. Sie erzählt mir, daß sie ihn begraben habe, den zweiten also auch. Jetzt sei sie allein, ihre Kinder seien längst in die Welt gegangen. Es ist klar, wo diese Welt liegt. Ich schaue ihr unwillkürlich auf den Busen. Er ist immer noch groß und straff, und an ihrem Hals sind kaum Falten zu sehen. Es überkommt mich die Lust, ihn anzufassen wie früher, und ich spüre, wie ich rot werde. Ich bin froh, daß mein Gesicht vor Anstrengung sowieso schon rot ist. Sie erzählt hastig und abgehackt, der Hund will weiter, und wir verabschieden uns. Sie biegt in die Siedlung ein, schaut sich noch mal um und winkt. Ich bleibe ein paar Minuten stehen, und ich überlege, ob ich ihr Haus wiederfinden würde. Vor langer Zeit hatten wir eine Brigadefeier auf ihrem Grundstück veranstaltet. Ich hatte auch daran teilgenommen, und es war ein wenig seltsam gewesen, denn zu dieser Zeit waren wir noch ein heimliches Paar.

Ich nehme mich zusammen, steige wieder aufs Rad und fahre weiter. Jetzt kommt nichts Überraschendes mehr, es geht wieder stur gerade aus. Immer wieder kommen mir andere Radfahrer entgegen, die nach Engelsdorf zur Arbeit fahren. Die meisten weichen auf den Fußweg aus, und ich überlege, ob ich wirklich so furchteinflößend aussehe, daß man mir Platz macht. Aber das ist Unsinn, und ich denke über Christel nach, und unsere Zeit, und warum und wie es damals mit uns begonnen hatte, und wie wichtig sie in meinem Leben einmal gewesen war. Zu einer Zeit, als in meinem Leben alles aus den Fugen geriet, und in der ich dringend eine verläßliche Größe brauchte, und Christel diese verläßliche Größe sein wollte. Sie hatte es mir längst verziehen, daß es mit uns nicht weitergehen konnte, und als sie dann ihren ersten Mann begraben hatte, hat sie sich an meiner Brust ausgeheult. Und wir waren wieder miteinander ins Bett gegangen, obwohl ich zu dieser Zeit gar keine Veranlassung zu einem Seitensprung gehabt hätte. Und ich habe ihr schon längst verziehen, daß es so mit uns nicht weitergehen konnte, als der zweite Mann in ihr Leben trat, der der beste Freund ihres ersten gewesen war. Und den hat sie jetzt auch begraben, denke ich, so, so, und dann rufe ich mich zur Ordnung. Bis zum Straßenbahnhof sind es nur noch ein paar Meter. Wo ist bloß das Haus in der Siedlung gewesen?

Am Straßenbahnhof überquere ich die Riesaer Straße und fahre durch eine Schlippe hinüber zur Permoserstraße, ich habe jetzt den Wind von hinten, und ich schalte in den dritten Gang. Ich spüre, daß ich das nicht lange durchhalten werde, aber ich stelle mir ein Ziel: bis zum Ende der Schlippe, bis dahin. Dann schalte ich wieder in den Zweiten, biege in die Permoserstraße ein und fahre auf dem Radweg weiter stadteinwärts. Erst kommt eine winzige Steigung, dann geht’s ganz leicht hinunter, vorbei an der Tankstelle, und dann kommt die Stelle, an der ich mich entscheiden muß, ob ich die normale oder die lange Tour fahren will. Die Begegnung mit Christel hat mich aufgewühlt, ich will nach Hause, ich entscheide mich für die kurze Variante. Ich sause längs der Theklafelder zwischen den Schrebergärten dahin, die Muskeln schmerzen, aber ich trete weiter und quäle mich. Ein Fuchs flitzt über die Straße und versteckt sich im Gebüsch vor einem Einfamilienhaus, und ich sehe, wie er mich aufmerksam beobachtet. Es ist nicht das erste Mal, daß ich Meister Reinecke begegne, und ich warte immer noch darauf, daß mir eines Morgens eine Wildschweinrotte den Weg versperrt. Dann begegnen mir drei Frauen. Sie tragen schicke Sportkleidung, sie haben lange Stöcke in den Händen, deren Spitzen sie nachlässig auf dem Boden schleifen lassen, und sie sind in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Ich klingele, denn sie laufen mitten auf der schmalen Straße, und ich müßte in das Unkraut am Rande ausweichen, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Erst reagieren sie gar nicht, aber dann bequemen sie sich, ganz auf die rechte Seite zu gehen, und sie bedenken mich mit dem gleichen Blick wie die Hundehalter. Manchmal habe ich es über, als der Störenfried der Nation zu gelten, und außerdem ist dies eine Straße, kein Fußweg, aber es ist besser, sich auf die Strecke zu konzentrieren als wütende und wilde Gedanken zu pflegen, die ich sowieso nicht umsetzen werde.

Die Straße wird jetzt zur Schotterpiste, ich muß langsamer fahren, und dann bin ich am Grünen Bogen. Ich steige vom Rad, lehne es an das Gatter und warte. Und da kommen sie. Als hätten wir eine Verabredung. Zuerst die Jungkühe. Sie sichern und schauen, aber es droht keine Gefahr. Wie auf Kommando kommen jetzt die Mutterkühe mit ihren Kälbern aus dem Dickicht. Aus der Wiese steigt noch Dunst. Die massigen braunen Hochlandrinder beginnen zu fressen. Ich stehe, schaue und warte weiter. Und da kommen die Norwegerpferde, erst eins, dann noch eins, und dann kommen die übrigen. Sie haben Fohlen dabei. In respektvoller Entfernung von den Rindern stellen sie sich auf und fressen ebenfalls. Sie sind so nahe, daß ich die Aalstriche auf ihren Rücken erkennen kann. Jemand behauptete, daß Haustiere in Freiheit nach drei Generationen wieder die Gewohnheiten ihrer wilden Vorfahren annehmen. Ich denke, er hat recht. Ich bin ganz allein mit den Tieren. Es ist kein Verkehrslärm zu hören, alles ist still. Nicht einmal die frühen Vögel lärmen, gar nichts. Es ist eine kurze Begegnung mit der Ewigkeit.

Vor meinem Haus steige ich vom Rad und lehne es an die Wand. Ich schließe die Haustür auf, nehme den Helm ab und lege ihn auf die Treppe. Dann löse ich den Knoten des Schweißtuches und wische mir mit dem feuchten Tuch über Nacken und Stirn. Die Beine sind ein wenig steif. Ich verschnaufe. Und ich denke an Christel. Und an die Begegnung mit den Tieren. Und an all die anderen Begegnungen meines Lebens. Ich verscheuche die lästigen Gedanken, bringe das Rad in den Keller und schließe es wie immer unter der Treppe an das Treppengeländer an. Als ich wieder hinaufsteigen will, fällt mir etwas ein. Ich seufze und gehe zurück. Ich schließe das Rad ab und bringe es in meine Kellerbox. Ich schließe den Keller sorgfältig ab und steige die fünf Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Ich schaffe es heute ohne anzuhalten, es ist die letzte Trainingseinheit. Im dritten Stock hat wieder jemand das Fenster geöffnet, ohne es zu sichern. Ich lasse den Sicherungsbügel einrasten, nur eine Vorsichtsmaßnahme wegen des Kamineffektes im Treppenhaus, denn es hat schon wiederholt Scherben gegeben. In meiner Wohnung ziehe ich die verschwitzten Sachen aus und hänge sie auf die Leine. Ich stelle das Teewasser an und auch das Eierwasser und ich freue mich auf das Frühstück. Ich trage die heutigen Daten in mein Protokoll ein: Datum, Tageszeit, gefahrene Kilometer und die benötigte Zeit. Ich bin wieder weit über meinem Durchschnitt geblieben. Dann mache ich unter die heutige Eintragung zwei energische Striche und hefte das Protokoll ab. Heute ist der zehnte September. Übermorgen muß ich ins Krankenhaus. Der Termin für die Operation steht schon lange fest.

 Leipzig, Oktober 2009

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