Eine Anton-Geschichte
von Bernd Mai
Anton kommt vom Arbeitsamt nach Hause, und er hat schlechte Laune. Er ärgert sich über seine neue Betreuerin. Sie hatte mißtrauisch den Hefter mit seinen letzten fünfundzwanzig Bewerbungen betrachtet. Dann hatte sie ihm zu verstehen gegeben, daß er seine Bemühungen um Arbeit gefälligst umfangreich und lückenlos zu dokumentieren habe.
„Ich habe hier noch niemanden mit einem dicken Ordner unter dem Arm herumlaufen sehen“, hatte Anton gesagt. „Außer Ihren Mitarbeitern, und die fahren sie auf ihren Wägelchen spazieren.“
Die Frau war verunsichert und machte ein böses Gesicht, offenbar wußte sie nicht, wie sie Antons zaghafte Renitenz beurteilen sollte. Dann hatte sie ihm das Stellenangebot eines Pflegeheims der Diakonie im Thüringischen ausgedruckt.
„Dieses Angebot ist nicht öffentlich zugänglich. Versuchen Sie es dort einmal“, sagte sie streng.
Anton hatte kurz überlegt, ob er sich bedanken müsse. Dann hatte er das Blatt wortlos in seinen Hefter gelegt, sich kurz verabschiedet und war gegangen.
Am Abend sitzt Anton vor dem Fernseher und schaut einen Utta-Danella-Film, es gibt nichts anderes. Der Wein aus dem Tetrapack schmeckt scheußlich. Auf der Mattscheibe wandert ein einsamer junger Mann durch eine Landschaft, die Anton an Mecklenburg erinnert. Am Ufer eines Sees macht der Mann halt. Er setzt sich ins Gras, die Sonne droht unterzugehen, und die Filmmusik wird leise und lyrisch. Anton seufzt. Er ist seit Jahren nicht mehr weggekommen, nirgendwohin. Anton ist deprimiert. In der ersten Zeit seiner Arbeitslosigkeit ist er immer noch zu seiner Geliebten gefahren. Die besaß in Kriebstein, in der Nähe des Stausees, eine Datsche, und Anton hatte den Aufenthalt dort immer sehr genossen. Nachdem er ihr erklärt hatte, daß sie ohne ihn in Urlaub fahren müßte, hatte sie ihm den Laufpaß gegeben.
Am anderen Morgen nimmt sich Anton die fünf letzten Stellenangebote vor. Am Ende druckt er die Bewerbungsschreiben und fünfmal den Lebenslauf aus. Er stellt die Bewerbungsmappen zusammen und tütet sie ein. Zweimal Bürokraft, einmal Buchhalter, einmal Controller – sowieso aussichtslos – und einmal Sachbearbeiter für eine Wohnungsverwaltung. Das ist mehr als die durchschnittliche Ausbeute einer Woche. Anton hat das Gefühl, als würden die Angebote von Monat zu Monat weniger. Er vervollständigt seine Liste und heftet die Angebote und die Kopien der Bewerbungen in einem Ordner ab. Demnächst würde er einen neuen anlegen müssen. Wegen seiner neuen Betreuerin macht er sich keine Sorgen. Wenn er das nächste Mal beim Arbeitsamt vorsprechen wird, wird bestimmt jemand anderes hinter dem Schreibtisch sitzen.
Einige Wochen sind vergangen, und Anton bekommt Post. Das Pflegeheim aus dem Thüringischen schickt ihm seine Bewerbung zurück. Man schickt ihm selten die Unterlagen zurück, und Anton ist gezwungen, immer neue Präsentationsmappen zu kaufen. Dazu ein freundlich-bedauerndes Anschreiben und das Informationsblatt eines Vereins aus Jena. „Hilfe für ‚Operation Heidemarie’“ steht als Überschrift auf dem Blatt, und Anton beginnt neugierig zu lesen. ‚Operation Heidemarie‘ sei der Name eines Vereins, und er werde auf eine sagenhafte Person dieses Namens zurückgeführt, die in den 60er Jahren die „Operation“ ins Leben gerufen haben soll, erfährt er. Man organisiere Freizeiten und vieles Andere für Behinderte, erfährt er außerdem. Und man benötige dringend Helfer und Betreuer für die Behinderten, ehrenamtlich natürlich. Und außerdem benötige man Fahrer mit technischem Verständnis, die Kleinbusse des Vereins wären mit einigen behindertengerechten Extras ausgestattet. Dann werden die Reiseziele der aktuellen Saison aufgezählt: Bayerischer Wald, Ostharz, Schwarzwald, Mecklenburger Seenplatte, Erzgebirge, Usedom und ein paar Orte, die Anton nicht kennt. Antons Blick kehrt immer wieder zu der Zeile zurück, in der „Mecklenburger Seenplatte“ steht. Die Freizeit ist für den Juni geplant, ideal für Mecklenburg. Ein leichter Schauer läuft ihm über den Rücken, und die Härchen auf seinen Unterarmen richten sich auf. Auf dem Blatt ist die Telefonnummer des Vereins und der Name des Geschäftsführers vermerkt. Anton ruft an.
Der Name des Geschäftsführers ist Dirk Schneider, und nach einigem Warten hat Anton ihn am Apparat.
„Hier ist Mertz, Anton Mertz aus Leipzig“, sagt Anton. „Man hat mir ein Informationsblatt Ihres Vereins zukommen lassen. Sie suchen Fahrer für Ihre Freizeiten, und ich habe nichts Besseres vor.“
„So so“, brummt Schneider. „Schon mal mit Behinderten gearbeitet?“ Er spricht südthüringer Mundart.
„Nein“, sagt er, „aber ich kann Ihre Kleinbusse fahren.“ Anton hat sich auf der Web-Seite des Vereins kundig gemacht. „Und ich habe Zeit, mehr als mir lieb ist.“
Schneider schweigt einen Moment.
„Können Sie morgen nach Jena kommen?“ fragt er dann. „Wir haben einen Ausfall für die Freizeit in Wernigerode, der Zivi hat sich ein Bein gebrochen. Die Freizeit beginnt schon nächste Woche.“
Anton überlegt einen ein paar Sekunden – Harzer Käse statt Mecklenburger Korn! Dann sagt er zu. Schneider läßt sich Antons Adresse und Telefonnummer geben. Sie vereinbaren die Uhrzeit, und Schneider gibt ihm Anweisungen für die Anfahrt. Dann legen sie auf.
Das Büro des „Heidemarie“-Vereins findet Anton in einer ruhigen Nebenstraße in einem verwinkelten Gründerzeithaus, das eine Renovierung nötig gehabt hätte. Der Hof bietet Platz zum Parken. Beim Aussteigen bemerkt Anton einen alten Kleinbus mit dem Behindertensymbol am Heck. Anton klopft im ersten Stock und betritt ein kleines Büro. Er grüßt und stellt sich vor. Die junge Frau am Computer macht einen müden und überforderten Eindruck. Sie begleitet Anton zwei Türen weiter und klopft. Die Frau öffnet zaghaft die Tür, steckt den Kopf durch den Türspalt und sagt irgend etwas, das Anton nicht versteht. Die Frau springt erschrocken zurück. Dann fliegt mit Schwung die Tür auf. Der Mann auf der Schwelle trägt ein kariertes Hemd ohne Kragen, sein Haar ist wirr, er ist gedrungen. Er ist jünger und kleiner als Anton, und er hat ein rundes Gesicht. Das Hemd, das er über der Hose trägt, kaschiert den Bauchansatz. Er hat sich lange nicht rasiert, aber das ist keine modische Attitüde, er ist nur nicht dazu gekommen. Sein Händedruck ist kurz und fest. Die Frau verschwindet.
„Ich bin Dirk Schneider“, sagt der Mann, während er Anton mit einer Geste zum Sitzen nötigt. Seine Stimme klingt warm und sonor. Anton haßt Vorstellungsgespräche, und selbst dieses formlose und improvisierte bereitet ihm Unbehagen.
„Mertz ist mein Name, Anton Mertz“, sagt er, und er merkt, daß seine Stimme tonlos und flach klingt. Er räuspert sich und sagt: „Anton Mertz, mit Eh und Teh-Zett.“ Schneider nickt. Er greift zum Telefon, drückt eine Kurzwahltaste und nuschelt ein paar Worte in den Hörer, die Anton wieder nicht versteht. Nach wenigen Augenblicken öffnet sich die Tür, und eine andere junge Frau betritt den Raum, der für drei Personen entschieden zu klein ist. Vor allem, wenn es zwischen zwei der Personen ordentlich knistert, denkt Anton. Die Frau trägt das dunkle Haar in kurzen Fransen. Ihr Gesicht ist herzförmig und ebenmäßig, der Mund ist vielleicht ein wenig zu groß, die Stupsnase und die runde Brille verleihen ihr etwas Kindliches. Um den Hals hat sie ein fipsiges buntes Tuch gebunden. Schneider stellt sie einander vor, aber Anton hat den Namen und die Funktion der Frau drei Minuten später schon wieder vergessen.
Sie bitten Anton, etwas von sich zu erzählen. Das tut er, und er paßt auf, daß er nicht zu persönlich wird. Als Anton fertig ist, fragt die Frau, wie sein Verhältnis zu Jesus Christus sei. Anton glaubt in Schneiders Gesicht ein Zucken wahrgenommen zu haben. Anton weiß aus dem Internet, daß der Verein sich auf christliche Werte beruft und Mitglied der Diakonie Thüringens ist. Er hat mit dieser Frage gerechnet.
„Ich habe überhaupt kein Verhältnis zu Christus“, sagt Anton. Weiter nichts. Dann schweigt er. Wenn es ihnen wichtig ist, sollen sie kommen, denkt er.
Schneider übernimmt das Reden. Den unwilligen Seitenblick der Frau übersieht er tunlichst.
„Gehen wir nach unten“, sagt er. „Ich erläutere Ihnen ein paar Grundsätze, und wir machen eine Probefahrt.“
Sie verlassen das Büro und Anton ist erleichtert, vielleicht wird es doch noch etwas mit dem Urlaub. Sie drehen mit dem Kleinbus ein paar Runden durch die Stadt. Schneider gibt ruhig und sachlich Hinweise. Die Frau beobachtet von hinten argwöhnisch Antons Fahrstil. Anton muß den zweiten Gang mit dem Vorschlaghammer reinhauen, die Lenkhilfe gibt seltsame quietschende Geräusche von sich und in den Kurven ist der Bus untersteuert. Als sie zurück sind, erklärt ihm Schneider die Arbeit mit einem Rollstuhl und wie man den Hubmatik am Bus bedient. Die Frau setzt sich in den Rollstuhl und simuliert eine Rollifahrerin. Anton muß sie zur Probe herumschieben, und nach und nach wird auch sie locker. Als Anton sie ungeschickt über eine Bordsteinkante zieht und der Rollstuhl ordentlich hoppelt, juchzt und kichert sie. Anton lernt, daß man unter allen Umständen und immer beide Bremsen am Rollstuhl anzuziehen hat, und daß man einen Bordstein grundsätzliche im rechten Winkel anfährt. Aber das Wichtigste wird er erst später lernen. Sie vereinbaren, daß Anton am Sonntagnachmittag nach Jena kommen und die Nacht bei Schneider verbringen wird. Am Montag in aller Frühe werden sie gemeinsam zu den Sammelpunkten fahren. Dann sucht sich Anton einen Imbißstand und ißt eine Thüringer Bratwurst. Nach einem Stadtbummel fährt er nach Hause.
Anton bittet seinen Sohn, ein Auge auf seine Wohnung und den Briefkasten zu haben. Am Sonntag nach dem Mittagessen fährt er los. In Jena stellt er sein Auto im Hof des Vereinsbüros ab und wartet auf Schneider. Der kommt nach wenigen Minuten, und sie fahren zu seiner Wohnung. Schneider stellt Anton seine Frau und die beiden Kinder vor. Die Frau ist ein blasses, schmales Wesen mit einem ernsten Gesicht und zwei steilen Falten über der Nase, die ihn mißtrauisch betrachtet. Ihr Händedruck ist schlaff und flüchtig. Die Kinder, zwei Jungs von fünf und sieben Jahren, kommen nach dem Vater, sie sind neugierig und aufgeweckt, und als der Kleinere fragt, ob Anton etwas mitgebracht hätte, schenkt ihnen Anton die beiden Fruchtriegel, die er für alle Fälle immer in seiner Reisetasche hat. Die Frau schimpft mit ihnen und Anton ärgert sich. Er bezieht ein winziges Gästezimmer, und nachdem er sich frisch gemacht und ein wenig ausgeruht hat, wird er zum Abendessen gebeten. Nach dem Essen zieht sich Anton in das Gästezimmer zurück und liest noch ein wenig. Er ist müde und geht bald schlafen.
Anton fährt hinter Schneider her, und manchmal hat er Mühe, ihm zu folgen. Sein alter Kleinbus ächzt und wimmert, und die Schaltung ist ausgeleiert. Der Bus, den Schneider fährt, ist neu, und er hat eine stärkere Maschine. Die Frau mit dem fipsigen Halstuch hat neben Schneider Platz genommen. In Jena steigen einige Teilnehmer mit ihren Betreuern zu. Der Rest der Teilnehmer und ein paar Freiwillige von der Jungen Gemeinde werden auf einem Autohof bei Mellingen auf sie warten.
Sie kommen auf dem Autohof an und werden bereits erwartet. Schneider hat die Plätze in den Fahrzeugen schon verteilt, und Anton muß nur seine Schutzbefohlenen einsammeln und in den Bus bugsieren. Ein junger Mann, der sich als Sven vorstellt, und eine kräftige Frau von Ende vierzig helfen ihm dabei. Sven nimmt nicht das erste Mal an solch einer Fahrt teil, er kennt das Sicherungssystem im Bus und er weiß auch, wie man den Hubmatik bedient. Er ist überhaupt sehr geschickt und umsichtig. Das beruhigt Anton. Sven erklärt ihm, wie man einen Rollifahrer mit den Sicherungsgurten und dem Hakensystem im Bus sichert. Der Rollifahrer heißt Gerd und ist vom Brustwirbel abwärts gelähmt. Als sie ihn festgemacht haben, sitzen auch die anderen Behinderten und Helfer auf ihren Plätzen. Anton überzeugt sich, daß alle angeschnallt sind. Die Frau hat sich auf den Beifahrersitz gesetzt, nachdem sie Anton schüchtern um Erlaubnis gebeten hatte. Sie heißt Jutta, ist Altenpflegerin und verbringt jedes Jahr einen Teil ihres Urlaubs mit „Heidemarie“. Sie ist untersetzt, hat ein rundes Gesicht und trägt die Haare kurzgeschnitten. Sie hat ein Rokoko-Mündchen und ein kräftiges Kinn, und sie trägt ein ärmelloses schwarzes T-Shirt. Ihre sehnigen Arme sind gut geformt und ihre kleinen Hände können kräftig zupacken, wie Anton beobachten kann. Mit einer Fachkraft und einem tüchtigen jungen Mann an seiner Seite fühlt er sich seiner Aufgabe mehr als gewachsen.
Anton versucht gar nicht erst, Schneider zu folgen. Er hat sich die Route in großer Blockschrift auf einem Blatt Papier notiert, die Schrift kann er auch mit seiner Fernbrille, die er beim Fahren trägt, lesen. Die Teilnehmer hinten im Bus schnattern und kichern, man kennt sich, hat sich lange nicht gesehen, und es gibt viel zu erzählen. Das ist Anton nicht gewöhnt, und es macht ihn ein wenig nervös. Jutta versucht mehrmals, Anton in ein Gespräch zu verwickeln. Anton aber ist kurz angebunden und sagt nur das nötigste. An einer Kreuzung muß er eine Vollbremsung hinlegen, weil ein PKW ihnen die Vorfahrt nimmt. Nachdem Anton sich vergewissert hat, daß alle wohlauf sind, fahren sie weiter, und Jutta hält von da an den Mund. Gott sei Dank, denkt Anton. Er gibt ihr, wie zur Entschuldigung, das Klemmbrett mit seinen Routenplan, und bittet sie, ihm behilflich zu sein. Sie lächelt ihn an, und Anton lächelt zurück. Anton schielt ab und zu nach rechts auf Juttas fülligen Busen, der sich unter ihrem T-Shirt wölbt, und er verspürt ein deutliches Kribbeln in der Magengegend. Als sie in Wernigerode ankommen und auf den Parkplatz der Ferienstätte des CVJM einbiegen, sind die anderen schon da. Sie spotten und lästern lauthals, aber dafür hat Anton nur ein müdes Lächeln übrig.
Anton soll sich das Zimmer mit Paulchen teilen. Paulchen ist ein Mann von vierzig Jahren mit dem Gemüt eines Zwölfjährigen. Er lebt in einem Bodelschwingh-Heim in Thüringen. Dirk, wie Anton ihn jetzt nennt, hat ihn gebeten, ein Auge auf Paulchen zu haben. Wenn er zu viel trinkt, verliert er die Kontrolle und stellt schon mal was Dummes an. Anläßlich einer früheren Freizeit sei er sturzbetrunken auf einen alten, hohen Birnbaum geklettert, und er hätte sich nicht wieder herunter getraut. Sie hätten die Feuerwehr rufen müssen. Anton hat zwar die Stirn gerunzelt, aber das konnte er selbstverständlich nicht abschlagen. Paulchen jedoch hat seinen eigenen Kopf, er will lieber mit seinen Kumpels vom Bodelschwingh-Heim, einem Spastiker und einem Jungen mit Down-Syndrom, zusammen wohnen. Es gibt ein großes Theater, und nachdem eine Mitarbeiterin des Hauses sich bereit erklärt, ein weiteres Bett in das Zimmer der Kumpels zu stellen, glätteten sich die Wogen der Aufregung. So ist Anton in den Genuß eines Einzelzimmers gekommen, und er ist nicht böse darüber. Aber ein Auge auf Paulchen möge er doch bitte trotzdem haben …
Gerd wird von Jutta betreut. Gerds Frau Vera ist auch mit von der Partie. Auch sie sitzt im Rollstuhl, aber sie kann aufstehen, kurze Strecken gehen und sie kann ihre Notdurft und ihre Toilette weitgehend selbst verrichten. Sie ist eine hübsche Person mit einem stattlichen Busen, und sie hat Anton gleich ins Herz geschlossen. Sie sitzt beim Essen gern neben ihm und ergreift jede Gelegenheit, um an Anton herumzufummeln. Das ist ihm nicht unangenehm, denn es hat schon lange niemand mehr an ihm herumgefummelt. Der junge Sven hat es ihr ebenfalls angetan, aber Sven, der ein hübscher und charmanter Bursche ist, schäkert lieber mit den Mädels von der Jungen Gemeinde. Die Frau mit dem fipsigen Halstuch beobachtet Svens Balzgehabe mit Argwohn, denn einige der Mädchen sind noch blutjung.
Am zweiten Abend, sie sitzen im Garten des Hauses zusammen, lernt Anton seine dritte und wichtigste Lektion. Sie trinken Wein. Anton hat eine Flasche spendiert, Gerd und Vera und noch ein paar andere auch. Ein Mädchen von der Jungen Gemeinde hat eine großes Stück Schnittkäse gekauft. Sie hat es in kleine Würfel geschnitten und bietet sie als Happen zum Rotwein an. Das kennt Anton noch nicht, und es schmeckt ihm. Paulchen hat sich geschickt vor dem Spendieren gedrückt, spricht aber fleißig dem Dornfelder zu. Anton ist ja da, und er hat ein Auge auf Paulchen …
Gerd stößt Anton an. „Mein Beutel ist voll“, sagt er leise.
„Was?“
„Mein Pißbeutel, Mensch!“
„Aha. Und was machen wir jetzt?“ Jutta ist gerade nicht da.
„Wir gehen hinter die Büsche.“
Anton löst die Bremsen an Gerds Rollstuhl und bugsiert ihn aus der Runde. Sie gehen hinter die Büsche.
„Paß auf“, sagt Gerd. „Der Beutel ist an meinem linken Unterschenkel befestigt. Mach den Reißverschluß unten am Hosenbein auf.“
Anton zögert.
„Na mach schon!“ knurrt Gerd. Anton tut, wie ihm geheißen. Er zieht das Hosenbein hoch, und darunter wird ein stabiler Plastikbeutel sichtbar, der mit zwei Schlaufen an Gerds Unterschenkel befestigt ist. Oben führt ein Schlauch hinein. Der Beutel ist groß genug für einen Liter, und er ist prall gefüllt mit Urin.
„Siehst Du die Mimik ganz unten?“
Anton sieht sie. Die Mimik ist eine sinnvolle Vorrichtung, die das Ablassen des Urins ermöglicht, ohne daß man den Beutel abschnallen muß. Anton erkennt die Funktionsweise der Vorrichtung und will die Zuhalte öffnen.
„Bist Du verrückt!“ schnauzt Gerd. „Erst gucken, dann zucken!“
Anton bringt erst Gerd und dann sich in eine günstige Position, und er öffnet die Zuhalte. Der Urin fließt ins Gras und es entsteht eine kleine Pfütze. Zum Schluß plätschert es leise. Anton streicht ein paar Mal mit der flachen Hand über den Beutel, um den Urin vollständig herauszubekommen. Der Beutel fühlt sich angenehm warm an. Anton schließt die Zuhalte und verstaut alles wieder in Gerds Hosenbein. Gerd nickt beifällig.
„Ist der Schlauch an Deinem Pimmel befestigt?“ fragt Anton.
„Ja, mit einem Kondom-Urinal. Das gibt’s aber auch mit Katheder.“ Anton verzieht das Gesicht.
Sie gehen zurück in die Runde. Niemand hat ihre kurze Abwesenheit zur Kenntnis genommen. „Was oben ‚rein geht, muß unten wieder ‚raus“, sagt Gerd und feixt.
Anton füllt ihre Gläser, und sie stoßen miteinander an.
Wenn sie einen Ausflug machen, ist Anton mit Fahren beschäftigt, und er gewöhnt sich an den Bus und seine Macken. Er sei schon durch viele Hände gegangen, sagt Dirk, und es wären nicht immer kundige Hände gewesen. Wenn sie in Wernigerode unterwegs sind, schnappt sich Anton einen Rollifahrer, meist erwischt er Gerd, und schiebt ihn durch die Gegend. Er achtet darauf, alles richtig zu machen, und Gerd faßt Vertrauen zu Anton. Schließlich wartet Gerd immer schon auf Anton, und Jutta schiebt Veras Rollstuhl. Das ist nicht ganz so anstrengend, denn Gerd ist ein Kerl von über achtzig Kilo. Einmal, sie wollen zur Orangerie, verpassen die vier den Anschluß. Sie haben keine Lust, hinter dem Pulk herzurennen, und sie beschließen, zum Markt zu gehen, um in einem Café Eis zu essen. Sie finden auf dem Freisitz einen freien Tisch und setzen sich. Sie haben einen guten Blick auf das Rathaus. Es ist eng auf dem Freisitz, und sie rücken dicht zusammen. Anton sitzt neben Jutta, und ab und zu berühren sich ihre Arme zufällig. Erst entschuldigt sich Anton, aber dann provoziert er die zufällige Berührung absichtlich. Jutta schaut ihn kurz an und lächelt verschämt. Unterhalb der Sichtlinie ihrer Schützlinge treffen sich schließlich ihre Hände, und Anton fühlt sich fünfunddreißig Jahre zurückversetzt. Sie schweigen und genießen. Anton nippt an seinem Bier, und Jutta schleckt an ihrem Eis herum.
„Hm, lecker!“ sagt sie. „Mal kosten?“ Anton nickt, und Jutta schiebt ihm eine kleine Portion Erdbeereis mit Schlagsahne auf ihrem Löffel in den Mund. Dabei schaut sie ihn unverwandt an, und Anton sieht ihre leicht nach oben gebogene Zungenspitze zwischen den Lippen zappeln. Er muß an eine Angelpose im Moment des Bisses denken.
„Kennt Ihr den Unterschied zwischen Parkinson und Alzheimer?“ fragt Vera. Anton schüttelt den Kopf.
„Macht nichts. Es ist nämlich egal, ob Du Dein Bier verschüttest oder nicht mehr weißt, wo Du es hingestellt hast.“ Sie lachen. Anton hebt sein Bier, prostet Vera zu und nimmt einen tüchtigen Schluck.
„Einen hab‘ ich noch“, sagt Vera. „Wie sagt man, wenn drei Einarmige Skat spielen wollen? Mischen impossible!“
Gerd will sich ausschütten vor Lachen. Jutta und Anton lächeln sich an.
An den abendlichen Andachten vor dem Schlafengehen nimmt Anton für gewöhnlich nicht teil. An diesem Abend bittet ihn Jutta, Gerd in den Andachtsraum zu bringen, sie werde sonst mit Vera nicht fertig. Na gut, denkt Anton, ihr zuliebe … Dirk schaut, ob noch jemand fehlt. Er begrüßt Anton mit einem Nicken, und er lächelt ihm aufmunternd zu. Anton runzelt die Stirn. Dann kommen Jutta und Vera, und Dirk kann beginnen. Umständlich zündet er ein paar Kerzen an, die er in der Mitte des Raumes kreisförmig aufgestellt hat. Sven stimmt seine Gitarre. Dann beginnt er zu singen: „Komm Herr, segne uns“. Nach und nach fallen alle ein. Dirk hat Blätter mit dem Text verteilt. Als er Anton eins in die Hand drücken will, hat der nach kurzem Zögern zugegrffen, kurz angelesen und es dann Gerd gegeben. Der kennt den Text auch nicht. Dirks voller und kräftiger Bariton wirkt in dem allgemeinen Gepiepse und Gegröle wie die schützende Hand des Herrn über der Herde, die sich alleine nicht zu helfen weiß. „Keiner kann allein Segen sich bewahren. Weil du reichlich gibst, müssen wir nicht sparen“, singen sie. Sven stampft rhythmisch mit dem linken Fuß, sein Oberkörper und sein Kopf wippen fordernd auf und ab, als wollte er den Chor antreiben. Was für ein erstaunlicher junger Mann! denkt Anton. Danach liest Dirk einen Text vor, in dem es um Sehnsüchte und geheime Wünsche geht. Anton schaut zu Jutta hinüber. Ihre Blicke treffen sich, und Anton hofft, daß sie die selben Sehnsüchte hegt wie er. Dann fordert Dirk die Teilnehmer auf, über ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche zu sprechen. Niemand sagt etwas. Dann beginnt Ecki zu sprechen. Ecki ist ein junger Bursche von vielleicht achtzehn Jahren, und er gehört zur Klientel der Jungen Gemeinde. Er ist, wie Gerd, hochgradig gelähmt. Aber während Gerd während seiner Dienstzeit bei der NVA einen Sportunfall erlitt, kennt Ecki es nicht anders. Er ist seit seiner frühesten Kindheit gehandicapt. Er sei vom Wickeltisch gefallen, erfährt Anton später. Seine Mutter sei daran verzweifelt, sei Alkoholikerin geworden und irgendwann verstorben.
„Ich wünsche mir, daß ich früh aufwache und wieder gesund bin“, sagt Ecki. „Und ich wünsche mir, daß der Herr Jesus hereinkommt, mich an die Hand nimmt und mit mir nach meiner Mutti sucht.“
Alle schweigen. Anton hält den Atem an.
„Und dann gehen wir über einen großen Spielplatz. Dort gibt es lauter bunte Spielgeräte. Ich steige auf ein Klettergerüst und auf eine Rutsche, und Schaukeln gibt es auch. Und dann kommt meine Mutti. Sie ist jung und schön. Und sie nimmt mich in die Arme, und wir gehen nach Hause.“
Nach der Andacht bringen sie Vera und Gerd ins Bett. Vor der Tür bleiben sie stehen, um sich voneinander zu verabschieden. Anton muß in den zweiten Stock, wo die Zimmer für die körperlich Unversehrten sind, und Juttas Zimmer liegt gleich neben dem von Vera und Gerd. Sie küssen sich.
„Komm mit“, sagt er.
„Später“, sagt sie. „Laß die Tür offen.“
Anton macht Toilette und legt sich hin. Dann klappt leise die Tür. Jutta zieht sich lautlos aus und schlüpft zu Anton unter die Decke.
„Euer Herrgott sei Ecki gnädig“, sagt Anton nach einer Weile.
„Gott ist immer gnädig!“
Aber Anton will keine philosophische Debatte, Anton will Liebe. Und die bekommt er.
Sie fahren nach Thale zum Hexentanzplatz. Anton ist ein wenig verschnupft. Dirk hatte die Devise ausgegeben, daß es zu den Essenszeiten keine festen Plätze geben dürfe. Diese Regelung führt dazu, daß Anton, der sich vor dem Frühstück schon mal um seinen Bus kümmert und daher oft als Letzter kommt, keinen Platz mehr in dem Bereich findet, den man ihnen zugewiesen hat. Rollifahrer beanspruchen eben mehr Platz als ihn ein einfacher Stuhl hergibt. Er muß dann schauen, daß er einen freien Platz unter den Familien und den anderen Reisegruppen findet. Bis jetzt machte ihm das nichts aus, aber heute hätte er gern neben Jutta gesessen. In seinem Bus sind die Plätze streng verteilt, und Jutta sitzt neben ihm. Einmal hat er sogar den jungen Sven weggescheucht, als der sich beiläufig auf den Beifahrersitz setzen wollte, während Jutta noch mit Gerd beschäftigt war. Jutta hält das Klemmbrett in der Hand und studiert Antons Reiseplan. Sie fahren ein Stück auf der Bundesstraße 6 und dann über Landstraßen. Die Straße hinauf zum Hexentanzplatz erfordert Antons ganze Aufmerksamkeit, und als sie oben sind atmet er auf. Sie wollen das Bergtheater besuchen und sich Shakespeares „Sommernachtstraum“ anschauen.
Aber das Wetter ist schlecht, und das Stück wird nicht gespielt. Anton hat wieder einen Grund, sich zu ärgern. Die anderen sind es zufrieden, sie wollen die Meile mit den Andenkenbuden entlangschlendern und Geld ausgeben. Dirk schlägt vor, zum Aussichtspunkt zu gehen, der eine großartigen Blick auf das Bodetal bietet. Die Gruppe teilt sich.
Dirk schiebt Ecki in seinem Rollstuhl den ansteigenden Weg zum Aussichtspunkt hinauf. Anton folgt ihm mit Gerd, dann kommt Jutta mit Vera und noch ein paar andere.
„Was gibt es da oben zu sehen?“ fragt Ecki.
„Das Bodetal, die Roßtrappe, tolles Panorama“, sagt Dirk.
„Roßtrappe? Was ist das?“ fragt Ecki wieder.
„Ein Felsen, der heißt so.“
„Und wieso?“ Ecki kann penetrant sein.
Dirk schaut sich hilfesuchend zu Anton um und verlangsamt sein Tempo. Anton erzählt die Sage vom Riesen Bodo, der hinter der schönen Prinzessin Brunhilde her ist und dabei in den Abgrund stürzt.
„… und seitdem heißt die Bode Bode. Nach Bodo …“, schließt Anton seine Erzählung.
„Und die hieß wirklich Brunhilde?“ zweifelt Ecki.
„Wer weiß?“ sagt Anton. „Aber es gibt noch mehr zu sehen. Ein Ferienhotel zum Beispiel, dort habe ich mal gearbeitet. Aber da war es noch ein Ferienheim des FDGB …“
„Ach was!“ meint Dirk. „Was hast Du da gemacht?“
„Nach meiner Armeezeit wollte ich wieder zur See fahren, aber sie haben sich ewig mit dem Seefahrtsbuch nicht ausgemährt“, erzählt Anton. „Dann habe ich zur Ostseewoche ein Mädchen kennengelernt. Die ist nach der Ostseewoche als Bedienung hierher gegangen, und ich bin mitgegangen. Sie brauchten einen Hausmeister.“
„Und was wurde daraus?“ fragt Dirk.
„Na ja, ich habe sie beim Bumsen mit einem Urlauber erwischt. Ich habe es dann mit den anderen Mädels vom Ferienheim getrieben. Bei der Kaltmamsell habe ich mir einen Tripper geholt. Ich habe mich zu Hause auskurieren lassen. Und da blieb ich dann auch. Ich suchte mir eine richtige Arbeit, begann ein Studium und gründetet eine Familie.“ Anton lacht.
Plötzlich endet der Weg. Zwischen ihnen und dem Aussichtspunkt liegt ein zwanzig Meter langes und ebenso breites Geröllfeld aus natürlich gewachsenen und kantigen Granitplatten, die den Weg zum Aussichtspunkt für Rollifahrer unpassierbar machen, glaubt Anton, und er ist enttäuscht. Dirk macht nicht viel Federlesen. Er dreht Eckis Rollstuhl um und bugsiert ihn mit Zerren und Schieben, Drücken und Heben über das Geröllfeld. Anton macht es ihm nach. An einer besonders ekelhaften Platte wäre er beinahe gescheitert. Aber da kommt ihm Jutta zu Hilfe, und sie bringen Gerd, der ganz still und ein wenig verängstigt in seinem Stuhl sitzt, gemeinsam zum Aussichtspunkt. Danach holen sie Vera. Und dann helfen sie den anderen, und am Ende stehen alle Rollifahrer am Aussichtspunkt und bewundern das Panorama.
Die Fotoapparate klicken. Anton stößt Gerd an und zeigt mit ausgestrecktem Arm zur anderen Seite des Tales, wo man am Berghang einen weißen Gebäudekomplex erkennt. Er beugt sich zu Gerd und flüstert: „Schau mal dort! Da drüben war das mit dem Tripper.“
Auf dem Rückweg fahren sie durch Blankenburg. Auf der Ausfallstraße nach Norden zur B6 gerät Dirk in eine Radarfalle, er ist viel zu schnell, und er wird herausgewunken. Als Anton heran ist, sieht er, wie Dirk und die Frau mit dem fipsigen Halstuch mit den Polizisten diskutieren. Die Frau gestikuliert aufgeregt mit den Armen. Anton fährt langsam an der Gruppe vorbei, und als sie außer Sichtweite sind, gibt er Gas.
Es ist ihr letzter Abend in Wernigerode. Die Belegschaft der Ferienstätte hat ein kleines Buffet organisiert, im Garten einen Grill aufgebaut und ein paar Tische hinausgestellt. Anton, Jutta, Gerd und Vera haben sich einen gemeinsamen Tisch gesichert. Vera fummelt an Antons neuem Hemd herum und entfernt ein unsichtbares Staubkorn. Sven hat eine kleine Traube von Jungs und Mädels der Jungen Gemeinde um sich versammelt. Er erzählt mit großen Gesten eine Geschichte und mimt einen Autofahrer am Steuer. Die Jungen und Mädchen schauen verstohlen zu Anton hinüber, und ihm dämmert, daß Sven die Geschichte seiner geglückten Vollbremsung vom ersten Tag erzählt. Die Frau mit dem fipsigen Halstuch kommt an ihren Tisch.
„Was war denn los in Blankenburg?“ will Anton wissen.
„Eine Radarfalle. Dirk soll zu schnell gefahren sein.“
„Und? Ist er?“
„Er mußte fünfunddreißig Euro bezahlen“, lenkt sie ab. „Stimmt es eigentlich, daß man oft gar nicht merkt, daß man zu schnell fährt?“
„Unter bestimmten Bedingungen kann das passieren, …“, sagt Anton.
„Wollen wir zusammenlegen und Dirk das Geld erstatten?“ Sie schaut fragend im Kreis herum.
„… und das ist der Grund, warum alle Autos ein Tachometer haben“, vervollständigt Anton seine Antwort. „Jedenfalls in Europa. Und in Amerika, glaube ich, auch.“
„Was?“
„Ein Tachometer. Auf dem man ablesen kann, wie schnell man fährt“, erklärt Anton sachlich.
„Gebt Ihr was dazu?“ Sie läßt nicht locker.
„Nein“, sagt Anton und schüttelt den Kopf. Nach kurzem Zögern schütteln auch die anderen die Köpfe.
Die Frau mit dem fipsigen Halstuch geht mit einem Achselzucken und beleidigter Miene davon. Sie hat nie wieder mit Anton gesprochen.
Sie sind auf der Rückfahrt nach Thüringen. Ab und zu schaut Anton zu Jutta hinüber. Sie studiert Antons Routenbeschreibung auf dem Klemmbrett. Sie haben die letzte Nacht zusammen verbracht, und sie haben Telefonnummern und Adressen ausgetauscht. Jutta wird Anton nach Jena begleiten. Dort will sie bei einer Freundin übernachten und am nächsten Tag mit dem Bus nach Hause fahren. Anton ist traurig. Aber das läßt er sich nicht anmerken. Und er muß auf die Straße achten. Die Freizeiter sind ungewohnt still. Gerd döst vor sich hin. Nur Sven versucht, ein wenig Lustigkeit zu verbreiten. Auf dem Autohof bei Mellingen verlassen alle den Bus. Manche werden von ihren örtlichen Fahrdiensten, andere von Verwandten abgeholt. Gerd und Vera müssen von einem Bus in den anderen umsteigen. Anton schiebt Gerd über den Parkplatz.
„Was macht Dein Pißbeutel?“ fragt Anton.
„Der ist voll.“
„Gehen wir noch mal hinter die Büsche?“
„Ja, gehen wir hinter die Büsche.“
Der Fahrer des Fahrdienst-Busses hilft Vera beim Einsteigen, klappt ihren Rollstuhl zusammen und verstaut ihn und auch das Gepäck. Verwundert beobachtet er, wie Anton mit Gerd hinter den Büschen verschwindet. Nachdem sie den Beutel geleert haben, schiebt Anton den Rollstuhl zum anderen Bus. Er nickt dem Fahrer kurz zu, verabschiedet sich und geht zu seinem Fahrzeug zurück. Jutta hat schon Platz genommen. In Jena, auf dem Hof des „Heidemarie“-Büros, verabschieden sie sich.
„Rufst Du mich an?“ fragt Jutta.
„Natürlich.“
Sie umarmen und küssen sich. Dann geht Jutta mit ihrem Trolley davon. An der Hofausfahrt dreht sie sich kurz um und winkt. Eigentlich will Anton noch nicht nach Hause fahren. Aber er wüßte nicht, wovon er ein Hotelzimmer bezahlen sollte, und Dirks Gastfreundschaft will er nicht überstrapazieren. Als er sich mit einem kräftigen Händedruck von Dirk verabschiedet, umarmt ihn dieser.
„Und Du willst wirklich nicht bei uns übernachten?“ fragt Dirk.
„Nein. Danke.“
„Viel Glück!“ wünscht Dirk.
Anton fährt auf die Autobahn, und er schaltet das Radio ein. Nach einer Weile bringen sie Nachrichten. Anton hört nicht zu. Aber er registriert im Unterbewußtsein irgend etwas, das ihn beunruhigt. Als sie eine Stunde später wieder Nachrichten senden, Anton nähert sich Bad Dürrenberg, dreht er lauter und hört aufmerksam zu. Mit dem Beginn des nächsten Jahres werde die vierte Stufe der Hartz-Reformen in Kraft treten, sagt der Sprecher. Gewerkschaften, Arbeitslosen- und Sozialverbände hätten massive Proteste angekündigt. Anton schaltet das Radio aus.
* * *
© Bernd Mai Aug. 2013 Leipzig & Wettin-Löbejün
Lieber Bernd,
sehr lebensnah und realistisch geschrieben. Ich habe das Gefühl als stummer Beobachter von Anfang an anwesend zu sein . Sehr real und mehr als nur lebensnah beschrieben. Die Szene mit zwischen Anton und Gerd ist Dir perfekt gelungen. Genau so kenne ich sie, wenn ich und einige Kollegen mit Behinderten uns manchmal auf Ausflügen befanden. Sehr humoristisch und außergewöhnlich normal dargestellt. Einfach spitzenmäßig.
Gruß Daggi