Fröhliche Weihnachten, Frau Nachbarin!
eine Anton-Geschichte
von Bernd Mai
Es ist der Heilige Abend. Im Fernsehen des MDR läuft zum x-ten Male „Die drei süßen Schwestern“ des DFF von 1982, mit Gerd E. Schäfer, und Anton amüsiert sich, ebenfalls zum x-ten Male, über die Berliner Kodderschnauze von Opa Katzenohr, den Gerd E. verkörpert. Dabei nimmt Gerd E. die Unzulänglichkeiten eines Staates auf die Schippe, den es seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gibt. Aber Anton hat ihn vierzig Jahre lang bewohnt, das prägt. Er geht in die Küche, um sich Feuerzangenbowle nachzuschenken. Der Topf mit den heißen Punsch steht auf der kleinen Herdplatte, und das Gebräu summt vor sich hin, genau wie es sein soll. Anton hat nicht gespart: Pampero-Rum aus Venezuela, italienischen Rotwein aus Bardolino, amerikanische Orangen aus Kalifornien und Zimt von den Glücklichen Inseln. Dazu einen halben Zuckerhut aus echtem, braunen kubanischen Rohrzucker. Anton schätzt, daß er nach dem dritten Glas einen gehörigen Schwips haben wird. Aber das ist erst das zweite. Er schaltet die Herdplatte aus und geht zurück ins Wohnzimmer.
Der Fernsehschwank dümpelt vor sich hin. Auf der Bühne des Kleinen Fernsehtheaters liefern ein paar junge Schauspiel-Eleven ihre gekünstelten Texte in einer Liebesszene ab, die erst später durch den Auftritt der drei Schwestern richtig in Fahrt kommen wird. Aber bis dahin ist noch Zeit. Anton überlegt, wen er noch anrufen muß. Aber ihm fällt niemand ein. Dann geht er im Geiste die Weihnachtskarten durch, die er geschrieben hat, und er hakt einen Empfänger nach dem anderen ab. Beim Kfz-Meister hat er fünf Euro in den Schlitz der Kaffeekasse gesteckt, bei Frau Doktor Irina Melnikowa, seiner Zahnärztin, hat er „balschoij brasnik i s nowym gadom“ gewünscht und auch einen Fünfer auf den Tresen gelegt, den Walenka, sie ist die Enkelin der Frau Doktor, mit ihrem bezauberndsten Lächeln blitzschnell darunter hat verschwinden lassen. Bei seiner Hausärztin hat er ein Paket hochwertigen Kaffees abgeliefert und sich schnell noch ein Rezept für ein paar wichtige Medikamente ausstellen lassen. Der abgehetzten Briefträgerin hat er im Vorbeigehen ein Zwei-Euro-Stück zugesteckt, dabei bekommt Anton sehr selten Post, und wenn, dann ist es etwas Unangenehmes, zum Beispiel die neueste Mieterhöhung. Die Reinigungsbrigade, die wöchentlich das Treppenhaus putzt, war heute auch da, und Anton hat jedem der Mädels, Maria und ihren Jungfrauen, wie er sie im Stillen bei sich nennt, einen Flachmann mit Kräuterschnaps aus dem Harz in die Hand gedrückt. Den haben sie gleich an Ort und Stelle aufgemacht und mit einem lautem „Hauwech!“ verputzt. Mit Maria hatte er sich einmal angelegt, weil sie die Fußabtreter immer irgendwie und irgendwo haben herumliegen lassen und einfach abgehauen sind. Es gab ein großes Geschrei und Maria hatte ihm Schläge angeboten. Anton hatte mal wieder einen sitzen gehabt, und er hat ihr in nichts nachgestanden. Nach einem kurzen Handgemenge vor Antons Wohnungstür ist Anton ihr an die Wäsche gekommen und sie landeten in Antons Schlafzimmer. Seitdem sucht Anton brav seinen Fußabtreter zusammen und legt ihn ordentlich vor seine Wohnungstür, nachdem der Podest getrocknet ist. Vielleicht lag es an dem Motiv, das Antons Fußabtreter ziert: Eine Art dreikantiges, spitzes Phallus-Symbol und zwei Billardkugeln. Die Abbildung hatte Anton an ein Gemälde von Al Koslowski erinnert, und er hatte den Abtreter billig beim Discounter erstanden. Ann-Katrein, seine Physiotherapeutin, liebt Marzipan über alles und Anton hat ihr eine große Schachtel des Konfekts, das er gern auch selbst ißt, geschenkt. Nur Herrn Ungewitter, der an der Theke der physiologischen Praxis den Großen Zampano mimt und schon die rote Spardose für die Kaffeekasse in der erhobenen rechten Hand bereithielt, hat er links liegen gelassen und nur grinsend zwei Finger der rechten Hand an die Schläfe gelegt, während er ihm ausdrücklich und süffisant einen guten Rutsch wünschte. Anton hat seine Gründe.
Der Fernsehschwank ist vorüber. Die Thomaner singen „Maria durch ein Dornwald ging“, und Anton holt sich das dritte Glas Feuerzangenbowle. Er langweilt sich und überlegt, ob er bei seinem schwulen Nachbarn klingeln soll. Vielleicht trägt er wieder sein kurzes Mieder und die Rüschenwäsche, wenn er die Tür öffnet und zeigt ihm stolz seine beachtliche Frauenbrust. Aber seit der junge Mann eine Freundin hat, die ihn „ihre Frau“ nennt, weiß Anton nicht mehr, was glauben soll. Er beschließt, sich von den glockenhellen Knabenstimmen verzaubern zu lassen. Aber das langweilt ihn bald. Auf einem Privatsender bringen sie „Der kleine Lord“, und Anton schaut eine Weile dem Treiben auf dem Bildschirm zu. Ohne Sir Alec Guinness in einer Hauptrolle wäre der Film unerträglich gewesen. Anton wird müde und die Augen fallen ihm zu.
Ein Läuten an der Wohnungstür reißt ihn aus seinem Halbschlaf, und Anton berappelt sich. Am Klang erkennt er, daß der Besucher direkt vor der Wohnungstür steht und nicht vor der Haustür. Wird doch nicht der Nachbar sein? denkt Anton. Oder Frau Bemmann aus dem Erdgeschoß? Aber die ist nicht gut zu Fuß, und sie würde nicht drei Treppen nach oben steigen, sondern anrufen und Anton nach unten bitten. Aber darüber wäre er auch nicht besonders glücklich, denn er hat den Eindruck, daß sie nicht nur Unterhaltung bei einem Kaffee oder einem Glas Wein sucht. Sie ist zwar noch flott zugange, aber Anton steht nicht auf dünne Frauen, die zu viel quasseln. Es läutet wieder. Anton stemmt sich aus seinem Sessel und geht zur Tür. Und plötzlich klopft es, und zwar ziemlich laut.
„Ich komme!“ brüllt Anton.
Er langt nach dem Bambusstock hinter dem Vorhang am Ende seines Korridors und stellt ihn griffbereit neben die Tür. Dann reißt er sie auf.
„Hohohoh! Hohohoh!“ grölt der Kerl vor der Tür. Er trägt einen langen roten Mantel mit einer Kapuze und auf dem Rücken hat er einen Jutesack, der Rauschebart ist echt. In der linken Hand schwingt er eine faustgroße Glocke, und er veranstaltet damit einen Heidenlärm. Die Tür des Nachbarn wird vorsichtig geöffnet. Der lugt um die Ecke, verschafft sich einen Überblick und verschwindet sofort wieder. Hinter dem Burschen im roten Mantel steht ein junges Mädchen. Sie trägt ein hellblaues Cape mit Kapuze, deren Rand ihre Augen verdeckt und den sie immer wieder hochschiebt, um etwas sehen zu können, zur einen Hälfte Christkind mit blonden Wallelocken und zur anderen Münchner Kindl. Wäre sie nicht so dürr gewesen und ihre Nase nicht so lang und spitz, was man auch von ihrem Kinn sagen kann, hätte Anton sie hübsch gefunden.
„Was wollt ihr denn so spät noch?“ will Anton wissen.
„Wir belohnen die Guten und bestrafen die Bösen“, sagt der Kerl mit verstellter Stimme und fuchtelt mit einem Reisigbesen herum, während das Christkind ein eingeübtes Lächeln zur Schau stellt. Als der Weihnachtsmann näher tritt, sieht Anton, daß ein grünes Kärtchen mit Paßbild an seine Mantelbrust geheftet ist. Ein solches Kärtchen trägt auch Frau Kowalski, seine Mieterbetreuerin der Leipziger Wohnen am Revers, wenn sie dienstlich in den Blöcken der städtischen Wohnungsgesellschaft unterwegs ist.
„Na los, kommt ‚rein“, brummt Anton. Er tritt einen Schritt zurück und öffnet die Tür gänzlich. Anton geht voran in sein Wohnzimmer, die zwei Märchenfiguren folgen ihm, der Kerl schwingt immer noch die Glocke. Anton dreht sich unversehens um und nimmt sie ihm weg.
„Schluß mit dem Krach!“ bellt er, und wenn er sauer ist, kann er sehr überzeugend sein. „Feuerzangenbowle gefällig?“
„Die haben wir uns verdient“, sagt der Mann mit ganz normaler Stimme und er bleibt in der Wohnzimmertür stehen, um zu verschnaufen und sich umzusehen. Das Christkind beginnt zu singen: „Kling Glöckchen, klingelingeling …“.
„Hör auf“, sagt der Mann und verzieht das Gesicht. „Nicht schon wieder!“ Die Kleine hält den Mund. Anton schiebt zwei Stühle zurecht.
„Setzt euch“, sagt Anton und er gibt sich Mühe versöhnlich zu klingen. Dann geht er in die Küche, füllt zwei Teegläser mit dem Rest der Bowle und bringt sie ins Wohnzimmer.
„Bitte schön!“ sagt er. „Prost, ihr Hübschen. Also, was gibt’s? Schon wieder eine Mieterhöhung? Zu Weihnachten und nett verpackt?“
Der Weihnachtsmann hat sich auf seinen Stuhl gefläzt und einen ordentlichen Schluck genommen, nachdem er vorsichtig gekostet hat.
„Ah, gut!“ sagt er. Das Christkind nippt an seinem Glas, verzieht den Mund, schüttelt sich und stellt angeekelt das Glas auf den Eßtisch. Dann will der Weihnachtsmann die Filzstiefel ausziehen, aber Anton schnauzt ihn an: „Laß das! Das hier ist ein ordentlicher Haushalt!“
Der Kerl schaut ihn entgeistert an, winkt ab und läßt es. Dann gibt er dem Christkind einen Wink, das sich daraufhin an dem Jutesack zu schaffen macht. Der Weihnachtsmann will aufstehen, aber es scheint ihm zu beschwerlich, und er bleibt sitzen.
„Also,“ hebt er an, „lieber Mieter, wir haben dir ein paar Geschenke mitgebracht. Na los, Christkind, nun mach schon!“ Er wird ungeduldig. Das Christkind packt aus: Eine Flasche Rotkäppchen-Sekt, eine Flasche Wilthener Weinbrand, eine Packung Hallorenkugeln mit Weihnachtsdekor und eine Büchse Halberstädter Würstchen. Das Christkind hat die Gaben auf Antons Eßtisch drapiert. Nun stemmt sich der Weihnachtsmann doch noch hoch und kramt in den Tiefen seines langen Mantels. Mit einem Briefumschlag kommt seine Hand wieder zum Vorschein. Also doch! denkt Anton. Schon wieder eine Mieterhöhung.
„Und das lieber Mieter der Wohnung fünfhundertdrei, Herr, äh, Herr …“.
„Mertz, mit Eh und Tehzett“, assistiert das Christkind.
„Mertz mit Tehzett, ja, also, das ist ihre diesjährige Weihnachtsgratifikation.“ Er wedelt mit dem Umschlag herum und verbeugt sich. Anton verbeugt sich ebenfalls und streckt die Hand aus.
„Wofür?“ fragt er entgeistert.
„Nun, sie haben ihre Miete immer pünktlich bezahlt. Und sie haben nie Ärger gemacht, bis auf ein Mal, äh, aber Schwamm drüber. Und sie haben unseren Hausmeisterdienst nie unnötig gerufen. Und es gab in den fünfundzwanzig Jahren ihrer Mieterschaft nie eine Beschwerde anderer Mieter gegen sie, bis auf ein Mal, aber das war, als wir den Dealer überführt haben.“
„Ich habe ihn überführt“, knurrt Anton und er betont das erste Wort.
„Egal. Sie waren immer ein wertvolles Glied der, äh, Hausgemeinschaft … und …“ Der Weihnachtsmann verliert den Faden, er verträgt wohl die Bowle nicht, oder es war nicht sein erstes Glas heute Abend. Das Christkind packt den Weihnachtsmann am Ärmel und flüstert ihm etwas ins Ohr. Sie flüstert so laut, daß Anton es verstehen kann.
„Halt jetzt die Klappe, du Idiot. Das ist der falsche Text.“ Sie nimmt ihm den Umschlag weg und überreicht ihn Anton mit einem Knicks. Dabei lächelt sie wieder wie eingeübt.
Anton nimmt ihn entgegen. Er ist sprachlos. Das Christkind macht sich wieder am Jutesack zu schaffen und bindet ihn zu. Sie zerrt den Weihnachtsmann hoch und bugsiert ihn aus dem Wohnzimmer, den Sack schleift sie hinter sich her. Anton nimmt ihn ihr ab, aber vorher kneift ihr schnell noch in den Hintern. Er war auf der Hut und ist schnell zwei Schritte zurückgetreten, zurecht, denn beinahe hätte er eine Ohrfeige gefangen.
„Wollte nur wissen, ob du echt bist“, sagt er und grinst. Das Mädchen funkelt ihn an. Sie hat mit dem Weihnachtsmann zu tun, und läßt es auf sich beruhen.
„Macht’s gut, ihr zwei“, sagt er und hält die Wohnungstür auf. Die Kleine will ihm nun doch noch eine runterhauen, aber Anton paßt auf.
„Arschloch!“ schreit sie, und Anton lacht. Dann schließt er die Tür, er will nicht wissen, wie sie nach unten kommen. Anton reißt den Umschlag auf und findet zwanzig Euro und ein kurzes Schreiben, auf dessen Rückseite eine Quittung gedruckt ist. Er möge die Quittung bitte unterschrieben bis zum und so weiter und so weiter.
Anton muß sich setzen. Er überlegt. Dann legt er die Flasche Sekt ins Tiefkühlfach. Er öffnet den Weinbrand und nimmt einen ordentlichen Schluck gleich aus der Flasche. Und noch einen. Dann verschraubt er die Flasche wieder und stellt sie in seinen Wohnzimmerschrank. Er liest das Schreiben der Leipziger Wohnen noch einmal, und er schüttelt den Kopf. Dann zieht er sich ein paar anständige Hosen und sein Lieblingssweatshirt an und nimmt die Flasche Sekt aus dem Tiefkühlfach. Er steckt seinen Wohnungsschlüssel in die Hosentasche, öffnet die Wohnungstür und klingelt bei seinem Nachbarn. Als der den Kopf durch die Tür steckt, wedelt Anton grinsend mit der Flasche und ruft: „Fröhliche Weihnachten, Frau Nachbarin! Lust auf ein Sektchen?“
© Bernd Mai Löbejün, Dez. 2016
Ich freue mich, dass Du doch noch eine neue Anton-Geschichte in diesem Jahr geschrieben hast. Von der Feuerzangenbowle hätte ich gern mal einen Schluck. :-))