eine Anton-Geschichte
von Bernd Mai
Anton stand an Bärbels Zeitungskiosk am Markt und studierte die Auslagen. Bärbel bediente gerade ein paar eilige Kunden, die noch schnell eine Zeitung oder eine Illustrierte haben wollten, bevor sie in den Feierabend gingen. Bärbel fertigte den letzten Kunden ab, drehte sich zu ihm und strahlte ihn an. Anton trat vor das Verkaufsfenster.
„Na, meine Gudsde, hasde was da?“ fragte er leise.
„Nu gloar“, antwortete Bärbel. Es war niemand in der Nähe, der mithören konnte, aber das war ihr Ritual. Anton langte durch die Öffnung und streichelte flüchtig ihre Hand, in der sie bereits den Eulenspiegel, das Magazin und die Wochenpost, eingeschlagen in die NBI, hielt.
„Gib mir noch die NDL, bitte. Gibt’s was an Taschenbüchern?“, fragte Anton.
Bärbel bückte sich, griff unter den Ladentisch, wo sie eine Weile herumkramte, und zeigte ihm dann einen Reclam-Band. Anton bekam Stielaugen und sein Herz machte einen Sprung: Hemingways Paris, ein Fest fürs Leben.
„Das nehme ich noch mit“, sagte er, und Bärbel steckte das Taschenbuch zu den Zeitschriften. Anton bezahlte mit einem Zehnmarkschein, und als Bärbel ihm das Wechselgeld in die Hand drückte, lächelte sie ihn verschämt an. Sie war eine ehemalige Mitschülerin, und in der zehnten Klasse hätten sie beinahe etwas miteinander angefangen. Aber es ist nie etwas daraus geworden.
Als Anton ein junger Bursche gewesen war, ist es sein größter Wunsch gewesen, eine Buchhändlerin zur Freundin zu haben, aber nun war Bärbel beim Postzeitungsvertrieb beschäftigt, und das war beinahe noch wichtiger. Einige Wochen zuvor hatte er bei ihr Hemingways 49 Stories als Taschenbuchausgabe vom Aufbau-Verlag gekauft, und Anton hatte die Storys verschlungen. Seitdem stand für ihn fest: So will ich auch schreiben, alles andere ist Kokolores! Und jetzt Paris, ein Fest fürs Leben, welcher Glücksumstand! Anton marschierte durch die Petersstraße zum Leuschnerplatz, und von dort die Grünwaldstraße hinüber zum Bayerischen Platz. Er hatte beschlossen, im Café Windmühle Rast zu machen, ein oder zwei Bier zu trinken und ein paar Seiten in seinem neuen Buch zu schmökern. Zu Hause würde er keine Ruhe dazu haben. Zu Hause hatte er auch keine Ruhe zum Schreiben, und er suchte schon lange nach einem Ausweg aus diesem Dilemma. Es ging ihm der Stoff für ein paar Kurzgeschichten im Kopf herum. Eine davon hatte er in seinem Büro geschrieben als er unter dem Vorwand, eine wichtige Arbeit fertigmachen zu wollen, Überstunden gemacht hatte. Aber die Geschichte mußte überarbeitet werden, und wenn die Kolleginnen der Spätschicht aus der Rechenstation wußten, daß er noch da war, dann kamen sie zu ihm mit ihren Fragen, statt in der Dokumentation nachzulesen. Faule Bande! dachte er.
Anton betrat das Café und schaute sich suchend um. Das übliche Kaffee-Trinken-Publikum war schon gegangen, und das Bier-und-Schnaps-Publikum war noch nicht da. Eigentlich war das Café der Ort ihres Donnerstags-Stammtisches. Aber heute war Dienstag, er lief also nicht Gefahr, von einem Stammtischkumpan bei seiner Lektüre gestört zu werden. Er suchte sich einen Tisch nahe der großen Fenster, durch das er den Betrieb auf dem Bayerischen Platz beobachten konnte und bestellte ein Krostitzer. Dann zündete er sich eine Cabinett an, nippte an seinem Bier und schlug das Buch auf.
Schon die ersten Seiten schlugen Anton in ihren Bann, und bald streifte er mit dem jungen Hemingway hungrig und frierend durch Paris, besuchte mit ihm die Cafés und trank mit ihm im Café Le Select fine a l’eau, in kleinen Schlucken um ihn lange genießen zu können, und er hockte mit ihm bei Gertrude Stein und schlürfte edle Obstbrände. Antons Fähigkeit, über einem Buch die Zeit und die Welt vergessen zu können, übernahm die Regie.
„Noch eins?“, fragte Frau Scholle, die Kellnerin, indem sie Antons leere Bierflasche zwischen Daumen und Zeigefinger vor seiner Nase pendeln ließ. „Das muß ja spannend sein!“
Dabei grinste sie ironisch. Anton besann sich und bestellte noch ein Krostitzer und dazu einen Nordhäuser, das literarische Ereignis mußte gefeiert werden. Frau Scholle brachte die Getränke. Der Nordhäuser war eiskalt, und das Glas war bereift. Sie stellten die Gläser ins Tiefkühlfach, bevor sie sie mit dem Schnaps füllten. Anton schlürfte seinen Korn, und einen Moment hatte er das Gefühl, in den zwanziger Jahren in Paris zu sein und mit Hemingway in der Closerie des Lilas zu sitzen. Einen anständigen deutschen Doppelkorn hätten sie damals sicher auch zu schätzen gewußt. Aber La Closerie ist Hemingways Schreibcafé gewesen, und die Passage, in der er beschreibt, wie er ein aufdringliches Mitglied der amerikanischen Künstlerclique auf grobschlächtige Weise daraus vertrieben hatte, hat Anton sehr belustigt. Sowas brauchst du auch, mein Junge, dachte Anton. Ein Studio, wie der Amerikaner es gehabt hatte, war undenkbar. Aber es hatte ihn ohnehin immerzu nach draußen in die Straßen und Gassen von Montparnasse gezogen, besonders wenn der Wind ungünstig stand und es sich nicht lohnte den Kamin anzuheizen. In einem sauberen und gut beleuchteten Café war es sicher in der kalten Jahreszeit auch schön warm gewesen. Anton nippte wieder an seinem eiskalten Korn, und er trank einen großen Schluck Bier. Anton würde zum Schreiben zwar keinen Bleistift benutzen, den man immer wieder frisch anspitzen mußte, sondern einen modernen Vierfarbkugelschreiber der Marke Markant, aber zur richtigen Tageszeit, stellte er sich vor, konnte man hier im Café Windmühle gut arbeiten. Das würde er ausprobieren, beschlossene Sache!
Eine Hand legte sich auf Antons Schulter, und er erschrak. Hinter ihm stand Wilfried Könner, der Platzhirsch ihres Donnerstagsstammtisches. Könner setzte sich ohne Umschweife zu Anton, und Anton verabschiedete sich von seinem Lesenachmittag. Könner hatte das Buch in die Hand genommen und fachmännisch untersucht. Mein Gott, ist doch bloß ein Reclam-Taschenbuch, dachte Anton, aber Könner verbreitete sich wieder lang und breit über die Haptik eines gut gebundenen Buches im Leineneinband. Diesen Exkurs kannte Anton bereits, und er mißfiel ihm, weil ihm der Einband egal war. Wichtig ist, was sich zwischen den Buchdeckeln abspielt, dachte er, aber es war eins von Könners Lieblingsthemen. Könner war Schriftsteller und Antons Gönner. Er hatte eine von Antons längeren Geschichten in einer deutsch-ukrainischen Anthologie untergebracht, und als Anton die anderen Beiträge der Sammlung gelesen hatte, hatte er sich dafür geschämt. Der Kritiker der NDL hatte ihn zwar nicht beim Namen genannt, aber „die unzureichende Qualität einiger Beiträge“ hatte sich nur auf seine Arbeit beziehen können. Eigentlich war Anton darüber hinweg, seit er nur noch Shortstorys schrieb, aber Könner war eben bei Antons literarischen Bemühungen immer präsent, und er hatte manchen guten Tipp von ihm bekommen. Keine Frage. Könner bestellte Krostitzer und Becherbitter für beide und bot Anton eine Semper an. Es sollten noch etliche Zigaretten verglühen und einige Biere getrunken werden, jedenfalls hatte Anton ordentlich einen sitzen, als er endlich gegen zehn Uhr nach Hause kam. Eins jedoch hatte er gelernt an diesem Abend: Das Café Windmühle kam als Arbeitsplatz eines jungen Schriftstellers nicht an Frage.
Anton begann, gezielt in seiner Gegend nach einer passenden Gaststätte zu suchen. Es mußte ja nicht unbedingt ein Café sein. Eine gewöhnliche Vorstadtkneipe, in der es erst abends gegen sieben voll und laut wurde, konnte seinen Ansprüchen völlig genügen. Eine Straßenbahnhaltestelle weiter in Richtung Süden, in der Nähe des Messegeländes, fand er den Südstern, eine typische Arbeiterkneipe. Normalerweise schrieb er auf kleinkarierten A-Vier-Bögen, aber extra zu diesem Zweck hatte er ein dickes Schulheft mit schwarzem Einband gekauft. Das hatte er Hemingway abgeschaut. Das Heft ließ sich in der Schultertasche, in dem er seine Pausenbrote, ein kleines Schreibetui, einige andere nützliche Kleinigkeiten und immer auch ein Buch transportierte, gut unterbringen. Am Stammtisch schwieg er sich über seine Pläne aus, nur Könner gegenüber machte er ein paar Andeutungen. Der nickte bedächtig, wie es seine Art war, und er hielt das für eine gute Idee. Könner wohnte in der Kochstraße, in einem eleganten Wohnblock aus den zwanziger Jahren, Bauhaus für Reiche, und er verfügte über ein großes Arbeitszimmer, das Anton Zeitchen zuvor tapeziert hatte. Könner hatte eine Romanserie über den Rohstoff Gummi laufen, und er verdiente ganz gut damit. Der abschließende Band „Buna“ sollte demnächst auf den Markt kommen. Anton mochte seine Bücher nicht besonders, und Könner selbst bezeichnete sich immer als einen „mittleren Burschen“, das meinte wohl ihr literarisches Niveau, aber als Tippgeber, Kritiker und Saufkumpan war er unübertroffen. Er kannte Gott und die Welt, und Anton verdankte ihm die Bekanntschaft mit einer Reihe von lokalen Größen des literarischen Lebens. Aber jetzt wollte Anton selbst ein Literat werden, und er gedachte, ernsthaft daran zu arbeiten, genauso ernsthaft, wie Hemingway sechzig Jahre zuvor in Paris gearbeitet hatte.
Es war mittwochs, mittags gegen zwei, als Anton den Südstern betrat. Er bummelte Überstunden ab, und die Gelegenheit, die Kneipe als Arbeitsort auszuprobieren, war günstig. Die Windfangtür war zerschrammt und hätte einen neuen Anstrich nötig gehabt. Der lange Aluminiumgriff, der diagonal an der Tür angebracht war, fühlte sich fettig und schmutzig an. Der Gastraum war rechteckig, an der gegenüberliegenden Schmalseite war ein Tresen installiert. Das Mobiliar stammte aus den vierziger oder fünfziger Jahre und war abgeschabt und schäbig, die Tische hatten keine Decken. Der Tresen war das einzige neuzeitliche Möbel. Er was mit langweiligem grauem Sprellacard verkleidet, und nur die chromglänzende blitzblanke Zapfanlage stach aus diesem traurigen Interieur hervor. Rechts neben der Theke stand ein großer runder Tisch mit sechs Stühlen und einem schweren Stammtisch-Schild aus falscher Bronze in der Mitte. Links daneben war eine Tür mit einem verblichenen Schild, auf dem in altdeutscher Schrift „Nach den Toiletten“ geschrieben stand. Vor der Tür an der linken Wand stand eine große alte Registrierkasse, wie Anton sie aus dem Friseurladen seiner Kindheit kannte. Anton taxierte den Raum und die Tische. Gleich vorn links am Fenster, etwas verdeckt durch einen gitterartigen Garderobenständer, stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Alle anderen Tische, bis auf den Stammtisch, waren mit vier Stühlen ausgestattet. Zielstrebig steuerte Anton auf den kleinen Tisch zu, hängte seine Jacke an das Garderobengitter und setzte sich. Seine Tasche plazierte er auf dem anderen Stuhl. Man hatte eben erst geöffnet, und bis auf Anton und einen frühen einsamen Trinker, der an der Theke stand und mit dem Wirt plauderte, war das Lokal leer. Der Wirt, ein feister, schwitzender Mann in Hemdsärmeln, mit einer Halbglatze, einem Schnauzbart und einem goldenen Kettchen um den Hals, spülte Gläser. Ab und zu sagte er „Ja.“ und „Nu …“ während der einsame Trinker eine endlose Geschichte erzählte. Aber das Interesse des Wirtes war nicht echt, sein Blick huschte unstet, aber aufmerksam, durch die Gaststube. Der einsame Trinker schien das nicht zu bemerken. Anton verstand etwas von einer Prämie, die jemand hätte bekommen sollen, aber nicht erhalten hatte, weil sie einem anderen Arschloch zugefallen war, das sie natürlich nicht verdient hätte.
Der Kellner kam eilig durch die Tür mit der Aufschrift „Nach den Toiletten“ und machte sich an der Registrierkasse zu schaffen. Dann bemerkte er Anton und kam zu ihm
„Was darf’s’n sinn?“ fragte er. Er war klein und schmächtig. Sein aufgedunsenes rundes Gesicht war voller roter Flecken, seine Stirn war schuppig, und auf seiner linken Wange klebte ein kleines Stück Toilettenpapier, das in der Mitte einen dunkelbraunen Fleck hatte. Seine kleinen Augen waren gerötet und die Lider waren geschwollen, als hätte er die letzte Nacht durchgemacht und wäre eben erst aufgestanden. Anton bestellte Bier und Korn.
„Bier un Gorn!“ rief der Kellner dem Kneiper zu, ging an die Kasse, um den Umsatz zu bongen. Der Kneiper begann das Bier zu zapfen. Dann nahm er ein Schnapsglas, tauchte es in das Spülwasser, stellte es blitzschnell auf die Zapfanlage und goß den Korn ein. Anton verzog das Gesicht. Die Marke konnte er von weitem nicht erkennen, Nordhäuser war es jedenfalls nicht. Der Kellner brachte die Getränke. Der Schaum auf dem Bier war schon in sich zusammengefallen, und das Getränk sah hellgelb aus. Es schmeckte fade und der Korn wässrig. Na gut, dachte Anton, du bist ja nicht zum Saufen hier. Dann nahm er das Etui und das Heft aus der Tasche, er und schlug das Heft auf. Als er den Stift aus dem Etui nahm, entdeckte er am Rand der Tischplatte zahllose Brandflecken.
Antons neueste Geschichte wollte überarbeitet werden. Sie war länger geraten als erwartet, und die Kollegen vom Schreibzirkel hatten sie streng kritisiert. Sie sei zerfahren und unkonzentriert, und man wüßte nicht genau, wohin sie eigentlich zielte. Und außerdem sei der Schluß viel zu versöhnlich geraten, gab die Wilde Hilde zu bedenken. Sie selbst bevorzugte brutale Schlußwendungen, nach denen der Leser ratlos zurückgelassen wurde. Viel passierte in der Story nicht. Ein junges Ehepaar, das selbstverständlich auch ein älteres hätte sein können, mißversteht sich gegenseitig, sie langweilt ihn mit lauter nebensächlichen Kleinigkeiten, er traut sich nicht, ihr seine Interessenlage klar zu machen, und zum Schluß sitzen sie gemeinsam vor dem Plattenspieler und hören Musik von Chopin.
„Der Schluß ist Scheiße“, hatte Hilde ganz trocken als erste in die Stille gesagt, nachdem Anton seine Lesung beendet hatte. Anton schluckte, aber das war man von Hilde gewohnt.
„Was soll er machen?“ fragte der Lange Fred, und er meinte Antons Protagonisten. „Soll er ihr eine reinhauen?“
„Warum denn nicht“, gab Andreas, der Zirkelleiter, zu bedenken.
„Genau! So entsteht Gewalt in der Ehe!“, eiferte Hilde. Sie konnte sehr kämpferisch sein.
Anton und Hilde waren die ältesten im Zirkel, und außerdem die einzigen, die schon verheiratet waren und über entsprechende Erfahrung verfügten.
„Aber Gewalt in der Ehe ist eigentlich nicht mein Thema“, bemerkte Anton schüchtern.
„Aber damit bringst du eine neue Dimension in die Geschichte, und du bringst sie auf den Punkt!“
Das gab Anton zu denken. Zum Schluß des Abends aber hatten sie sich nicht mehr über seine Geschichte gestritten, sondern über die Probleme zwischen Mann und Frau. Das sei ein gutes Zeichen, hatte ihm Andreas leise zugeraunt. Und hatte ihm empfohlen, sie neu zu schreiben und aus der Geschichte zwei zu machen.
Anton hatte das Manuskript zu Hause gelassen, er wollte die Storys neu erfinden, und er hatte die Grobfassungen im Kopf bereits fertig. Die erste sollte in echter Hemingway-Manier „Früh am Morgen und etwas später“ heißen. Die Story schrieb sich von selbst, Anton mußte gar nicht mehr nachdenken. Und am Ende haut er ihr wirklich eine rein. Anton atmete auf. Er klappte sein Heft zu, ließ die Kugelschreibermine zurückschnappen, trank sein Bier aus, das nun endgültig schal geworden war, und schaute sich im Lokal um. Die meisten Tische waren jetzt besetzt. Anton mußte die Toilette aufsuchen. Er ging durch die Tür mit dem Toilettenschild und fand sich in einem Hausflur wieder. Die Wände waren irgendwann vor dem Krieg einmal mit gelber Farbe gestrichen worden, nun aber waren sie fast braun. Kackbraun, dachte Anton. Sie waren mit Blumenornamenten geschmückt, die so verblaßt waren, daß man sie nur noch erahnen konnte. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne an einem Kabel herab. An den Wänden hatten sich mehrere Putzteile gelöst, unter denen das Mauerwerk zu erkennen war, und an den Rändern bröckelte der Putz weiter. Die Fensterscheibe der Tür zum Hof war zerbrochen. Das Aufputzkabel zum Lichtschalter zog sich an der Wand entlang, und mehrere Befestigungsschellen hatten sich von der Wand gelöst. Die Löcher der Verdübelung waren groß wie Bierdeckel. Überall lag Unrat herum. Die Tür zur Toilette war offen. Der schmale Raum war genauso verkommen wie der Hausflur. Die der Tür gegenüberliegende Wand war mit grau-grüner Ölfarbe bis in Mannshöhe gestrichen, mit wie vielen Schichten, konnte man nur schätzen. Am Fuß der Wand war eine Rinne in den Fußboden eingelassen. Sie wurde von einem dünnen Wasserrinnsal durchflossen, das aus einem offenen Rohr an der linken Wand rieselte. In der Rinne lagen durchweichte Papierfetzen, leere Zigarettenpackungen und etliche Kippen. Es stank entsetzlich. Anton schlug sein Wasser ab, und er versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Dann machte er, daß er ‚rauskam, und setzte sich wieder an seinen Tisch. Der Kellner eilte flinken Schrittes hin und her und servierte Getränke und Bockwurst. Plötzlich stand er vor Anton.
„Na, noch’n Bierchen, dorr Herr?“ Dabei grinste er verschlagen.
Anton nickte, und der Kellner stellte ihm ein neues Bier auf den Tisch. Anton fühlte sich müde und ausgebrannt, aber er war glücklich. Diese Story, das spürte er ganz tief drinnen, taugte etwas.
„Änn Schrifdstellorr hadd’n morr hier noch nich“, sagte der Kellner und wieder grinste er, und Anton konnte das grinsen nicht deuten.
„Dann können Sie einst sagen, Sie wären dabei gewesen, als ich damit angefangen habe.“
„Nunu“, sagte der Kellner, „ooch noch ä Gärnch’n?“
„Nee, ich bezahle dann mal.“
„Das machd dann drei Marg.“
Anton gab ihm drei Mark fünfzig, und der Kellner bedankte sich überschwänglich. Anton packte sein Utensilien zusammen und ging. An der Haltestelle zündete er sich eine Zigarette an. Er fühlte sich leicht und froh, und er beschloß, an nichts weiter zu denken um dieses Gefühl so lange wie möglich genießen zu können. Dann kam die Straßenbahn, und Anton warf seine halb gerauchte Zigarette in den Rinnstein.
Anton schrieb die Story im Betrieb mit einem Org-Automaten ab. Das Gerät kannte keine Umlaute und kein Eszett, aber man konnte beim Schreiben einen Lochstreifen stanzen, mit dem man beliebig viele Kopien und Korrekturen herstellen konnte, wenn man das Gerät beherrschte. Die Story hatte am Ende einen Umfang von dreieinhalb A-Vier-Seiten, anderthalbzeilig geschaltet und mit sechzig Zeichen pro Zeile. Bis auf die fehlenden Umlaute sah es sehr professionell aus, zumal durch den gleichmäßigen maschinellen Anschlag eine Seite war wie die andere. Am nächsten Zirkelabend las er sie vor. Alle schwiegen, als er geendet hatte.
„Nun ja“, brummte der Lange Fred.
„Jaaa …“, sagte die Wilde Hilde, und dabei hob sie die Stimme.
Man räusperte sich, Füßescharren. Andreas nickte. Die anderen nickten ebenfalls.
„Kannste so lassen.“
„Nicht übel.“
Man war beim Loben eher zurückhaltend. Aber dann wollten die jungen Poeten ihre neuesten Werke vorstellen. Es wurde wieder ein langer Abend, der mit ein paar Gläser Bier im Clubrestaurant endete.
Anton konnte Teile der zweiten Story im Betrieb schreiben. Er hatte ein größeres Projekt beendet und in die Praxis überführt. Jetzt hatte er Luft, und hin und wieder hatte er Zeit zum Schreiben, aber es war nicht das Selbe. Eines Tages, es war wieder mittwochs, machte er früher Feierabend und fuhr eine Haltestelle weiter. Im Südstern war sein Tisch noch frei, und Anton setzte sich. Der Kellner kam und stellte ihm ungefragt ein Bier auf den Tisch.
„Unn, ooch ä Gärrnschen?“
Anton dachte an das Spülbecken und lehnte höflich dankend ab. Dann holte er sein Schreibzeug aus der Tasche, um an seiner Geschichte zu arbeiten. Er wußte nicht, wie sie enden sollte. Eigentlich sollte der Held zum Schluß dumm dastehen und ratlos sein. Aber er spürte, daß das kein guter Schluß war. Anton zögerte um zu überlegen. Sein Blick schweifte durch die Gaststube. Der einsame Trinker stand wieder an der Theke. Ein paar Gerüstbauer aus seinem Betrieb saßen in ihren schwarzen Zunftklamotten an einem Tisch und diskutierten lautstark. Anton hob sein Glas und grüßte hinüber. Sie taten ihm Bescheid und luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen. Aber Anton entschuldigte sich. Er hätte noch zu tun. Eine altes Paar saß an einem anderen. Der Mann aß ein Warmes Eckchen und sie achtete besorgt darauf, daß er sich nicht mit Soße bekleckerte. Der alte Mann aß langsam und seine Bewegungen wirkten mechanisch und abgehackt. Anton beobachtet die beiden eine Weile. Sie nahm ihr Taschentuch und wischte ihm zärtlich den Mund ab, bevor sie ihm das Bierglas reichte, an dem er vorsichtig nippte. Stoff für eine neue Story, dachte Anton, und er machte auf dem Innendeckel seines Heftes eine Notiz. Ansonsten war das lokal mäßig gefüllt. Sein Blick traf den des Kneipers. Der beobachtet ihn mit sichtlichem Mißvergnügen. Anton grinste ihn freundlich an. Der Kneiper lächelte finster, sah weg und kümmerte sich um seine Gläser. Anton überlegte, was sein Held am Ende der Story tun könnte, nach all den Mißverständnissen und Lügen, den vergeblichen Erklärungsversuchen und den kleinen und großen Zankereien, die ihn zermürbten. Anton wurde es unbehaglich. Als würde jemand mit den Fingernägeln auf einem Blech herumkratzen. Er schüttelte sich und bestellte noch ein Bier.
Die Story machte Probleme. Anton mußte ständig korrigieren, und er wünschte sich, er hätte zum Schreiben einen Bleistift benutzt, und er hätte einen guten Radiergummi dabei gehabt. Es war wie beim Kreuzworträtsel. Wiederholt strich er alles durch und begann von Neuem. Endlich hatte er die Idee. Es war keine Eingebung. Dieser Schluß hatte schon lange in seinem Unterbewußtsein gehockt. Sein Held würde seine Frau verlassen und sich scheiden lassen. Nur, wohin sollte er gehen? Also dachte Anton über eine Geliebte nach, die über Wohnraum verfügte. Er könnte ihn aber auch in irgendeinen abgelegenen Landstrich fliehen lassen, wo man dringend Schlosser für marode Landmaschinen benötigte. Zum Beispiel in die Uckermark. Ein paar Möglichkeiten gab es schon. Anton war zufrieden. Er winkte den Kellner heran. Der brachte auch gleich ein frisches Bier mit. Anton bedankte sich.
„Ich soll Sie vom Chef fraachen, was Sie da so dreim, de ganze Zeit“, raunte er Anton zu.
„Ich schreibe.“
„Nu! Ich weeß“, sagte der Kellner. „Das is abber geene Schreibstube hier sondern änne Drinkstube, saachd dorr Chef.“
Anton schaute hinüber zur Theke. Der Kneiper stand mit aufgestützten Händen hinter der Spüle, das Handtuch über der Schulter. Er guckte ihn drohend an und fletschte die Zähne. Anton wollte sich nicht einschüchtern lassen, und er hob sein Glas und prostete dem Kneiper zu. Der wandte sich ab, um scheinbar ungerührt Gläser zu spülen. Aber Anton hatte genug. Er bezahlte seine Rechnung und packte seine Utensilien zusammen. Dann trank er in Ruhe sein Bier aus. Er mußte die Toilette aufsuchen und er ging grußlos durch die Tür mit der Toilettenaufschrift. Der Boden des Hausflurs war mit einer Unzahl von fetten weißen Maden bedeckt. Man sah kaum die Ziegel des Bodens. Zu Abertausenden, ja Millionen, krochen sie wie ein einziger riesiger Organismus in Richtung Hoftor, hin zum Licht des hereinbrechenden Abends. Anton war schon mit beiden Füßen in den Organismus hineingetreten und die zerplatzenden Maden machten knackende Geräusche. Er wollte nicht zurück in die Gaststube und schätzte die Entfernung zur Toilette und zur Haustür ab. Dann tappte mit großen Schritten zur Haustür, und bei jedem Schritt knackte es vielfach. Er hatte Angst auszurutschen. Auf der Straße atmete er auf. Dann suchte er eine Gelegenheit, sich zu erleichtern, und er fand zwei Häuser weiter ein dichtes Gebüsch.
Ein paar Tage später fand Anton eine andere Gaststätte. Sie lag an der selben Hauptstraße, aber zwei Haltestellen weiter, in der Nähe des Südfriedhofes. Sie hatte die Preisstufe III, und die Bedienung bestand aus einer jungen, ansehnlichen Frau und einem dicken gemütlichen Kellner, der kurz vor dem Rentenalter stand. Man sprach Gewandhaussächsisch. Die Trauergäste, die vom nahen Friedhof kamen, nahmen hier das Trauermahl ein. Anton fand einen passenden Tisch in der Nähe des Fensters, und die Kellnerin war freundlich, flink und nicht neugierig. Man war es hier gewöhnt, diskret und zurückhaltend zu sein. Der Kneiper, ein hagerer Mann mittleren Alters, trug zum weißen Hemd eine schwarze Weste und eine seriöse schwarzer Fliege. Seine Bewegungen hinter dem Tresen waren gemessen und abgezirkelt. Zwar beobachtete auch er Anton zunächst mißtrauisch, aber an seiner Miene war nichts abzulesen. Der Lärmpegel im Lokal war naturgemäß niedrig. Die Toilette war klein, alt und verschlissen, aber sauber. In diesem ruhigen und freundlichen Lokal schrieb Anton seine Story zu Ende. Und später auch noch einige andere. Seine beiden Geschichten reichte er zum Literaturwettbewerb der Tribüne ein und gewann einen zweiten Platz. Geld gab es dafür nicht, aber er wurde von da an öfter zu Literatur-Werkstatt-Tagen eingeladen. Ein Laienspielzirkel dramatisierte die Storys, aber Anton bekam keine Gelegenheit, das Ergebnis zu autorisieren. Als er die Stücke einmal auf einer Kellerbühne zu sehen bekam, war er entsetzt. Ungeachtet dessen wurde sein Zirkel zum nächsten Tag der Republik mit dem Titel Hervorragendes Volkskunstkollektiv ausgezeichnet. Geld gab es auch dafür nicht, aber sie haben den Titel ordentlich gefeiert. Schließlich hatten sie ihn sich verdient.
Anmerkungen:
– Eulenspiegel, Magazin, Wochenpost: beliebte Periodika der DDR; wurden gewöhnlich
als „Bückware“ gehandelt; der Verkäufer mußte sich danach bücken, weil sie unsichtbar unter dem Ladentisch deponiert war
– NBI: Neue Berliner Illustrierte, offiziöse Illustrierte der DDR; nicht ganz so beliebt wie
die Periodika oben
– NDL: Neue Deutsche Literatur, Zeitschrift für Literatur, Kritik und Literaturtheorie;
Organ des Schriftstellerverbandes der DDR
– Postzeitungsvertrieb: Glied der Deutschen Post der DDR; hatte da Monopol des Verkaufes von Periodika, hatte aber auch Taschenbücher und Kalender im Angebot;
betrieb überall Kioske; man konnte z. B. die NDL nicht in Buchhandlungen bekommen
– …statt in der Dokumentation nachzulesen: Anton arbeitete als Programmierer in einem
städtischen Baubetrieb
– Café Windmühle: ein beliebtes Café in Leipzig am Bayerischen Platz, Ecke Windmühlenstraße; heute ein Bäckereigeschäft mit Kaffeeausschank einer lokalen Kette, den Namen trägt es nicht mehr
– Krostitzer: ein wegen seines einzigartigen Geschmacks sehr beliebtes Bier aus Krostiz bei Leipzig; in jener Zeit bekam man es nur in ausgewählten Restaurants und Geschäften zu kaufen; heute ein Massenbier wie alle anderen
– Semper, Kabinett: in der DDR beliebte Zigarettenmarken der mittleren Preisklasse
– Markant: großer Hersteller von Schreibgeräten in der DDR
– Messegelände: gemeint ist das alte Messegelände in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals
– Preisstufe III: die Restaurants in der DDR waren nach Preisstufen gegliedert; die niedrigste Preisstufe war die II, die höchste nach der V war die Preisstufe „S“, die bekamen aber nur hochklassige Restaurants und die Restaurants der Interhotels; zur Leipziger Messe stufte man in Leipzig einfach bestimmte Gaststätten der Stufe III für die Dauer der Messe hoch auf „S + 50%“, so auch das Café Windmühle;
die Preisstufe war für gewöhnlich auf der Speisekarte abgedruckt
– Antons Schreibzirkel: „Zirkel schreibender Arbeiter“, integriert in den Kulturbund der DDR; wurden von sogenannten Trägerbetrieben finanziert und hatten ihre Heimstatt in deren Klubhäusern; in Antons Zirkel gab es keine Arbeiter
– Org-Automat: eigtl. Organisations-A.; eine Büromaschine, bei der eine elektrische Schreibmaschine mit Lochbandstanzer(n) und -leser(n) gekoppelt war; ein „Multipurpose“-Gerät; in Antons Rechenzentrum dienten sie als Datenerfassungsgeräte
– Warmes Eckchen: warmes Schnellgericht, das aus einer Scheibe Schweinebraten auf einer Scheibe Mischbrot mit Bratensoße bestand
– … Geliebte, die über Wohnraum verfügte: man konnte in der DDR nicht einfach losgehen, um eine leere Wohnung zu mieten; Wohnraum war knapp und wurde staatlich bewirtschaftet
– Tribüne: Gewerkschaftszeitung der DDR
– Gewandhaus-Sächsisch: so nennt man es in Leipzig, wenn ein Sachse versucht, gebildet
auf Hochdeutsch daherzureden; in Dresden heißt das Zwingersächsisch; vergleichbar
mit dem Hamburger Missingsch
– Tag der Republik: der 7. Oktober; am 7.10.1949 wurde die DDR gegründet; Nationalfeiertag
– Hervorragendes Volkskunstkollektiv: Staatliche Auszeichnung für Gruppen des „künstlerischen Volksschaffens“ (Amateure); Laienspielgruppen, Bands, Schreibzirkel, Töpferzirkel, Orchester, Kabarettgruppen, Malzirkel, Volkstanzgruppen, Chöre usw. wurden damit ausgezeichnet; neben einer Urkunde gab es eine Medaille aus Meißner Böttger-Steinzeug, die man sich als „nichttragbare staatliche Auszeichnung“ immerhin in die Vitrine legen konnte
Löbejün und Leipzig, März 2018
© Bernd Mai 2018
Wieder eine super Geschichte. Vielen Dank dafür.