Anton und die künstliche Intelligenz
von Bernd Mai
Anton kann Computerprogramme, die klüger als der Nutzer sein wollen, nicht leiden. Er hat den größten Teil seines Berufslebens als Programmierer gearbeitet. In den achtziger Jahren war er bei einem großen kommunalen Baubetrieb beschäftigt gewesen, und er hat damals alles, was nach Ökonomie und Buchhaltung roch, beackert. Sie hatten endlich einen „richtigen“ Computer bekommen, einen rumänischen Nachbau des berühmten PDP-11, und nachdem Anton gemeinsam mit einer Kollegin eine Lohn- und Gehaltsabrechnung zum Laufen gebracht hatte, machte er sich an die Entwicklung eines Kontokorrentprojektes. Seine Kollegin war zur Leiterin der Rechenstation ernannt worden. Daher hatte Anton keinen Partner mehr, und er mußte sich jetzt allein um alles kümmern. Hilfe erhielt er von seiner Lieblingsbuchhalterin Vera Schneider, die ihn mit den Abläufen und den Vorschriften vertraut machte. Vera war eine kräftige Frau von Anfang vierzig, die ihre Tochter, einen stets mißgelaunten und mürrischen Teenager, allein erzog. Er kannte Vera seit seinem Eintritt in die Firma, und sie waren sich von Anfang an sympathisch gewesen. Nach einer Frauentagsfeier hatten sie auf dem gemeinsamen Heimweg heftig miteinander herumgeknutscht, aber das hatte keine weiteren Folgen gehabt. Anton war schließlich verheiratet, und er hatte zwei Kinder. Und außerdem hatte er ein Verhältnis mit seiner Kollegin Christa G. von der Rechenstation, und er wollte das Durcheinander nicht größer machen, als es ohnehin schon war.
Die Arbeit am Kontokorrentprojekt war eher simpel und meist Routine. Datenstrukturen und Drucklisten entwerfen, gesetzliche Bestimmungen studieren, bei der Staatsbank anrufen, Termine vereinbaren, die Struktur der Kontonummern entschlüsseln, mit Vera die nächsten Schritte besprechen. Er hatte freie Hand, und weil er nicht mit einem nörgelnden Partner gestraft war, konnte er sich ein paar Freiheiten herausnehmen. So überredete er seinen Abteilungsleiter und den Hauptbuchhalter, den neuen Bürocomputer, so groß wie ein kleiner Schreibtisch, in Veras Büro zu stellen, damit er seiner Bezeichnung gerecht werden konnte. Sie sollte die Datenerfassung und einen kleinen Teil des Projektes selbstständig bearbeiten, und das war in jener Zeit und in jenem Land etwas völlig Neues. Hinter vorgehaltener Hand begann man zu tuscheln. Aber Anton hatte nur den einen Bürocomputer, über den er verfügen konnte. Das Getuschel hörte auf, als Anton der Kostenrechnung versprach, daß sie den nächsten Bürocomputer bekommen würde.
Eines freitagabends, Anton hatte eine Woche mit vielen Überstunden hinter sich, beschloß er, auf dem Heimweg im Café „Windmühle“ vorbeizuschauen. Manchmal traf er dort einen seiner Schriftstellerfreunde, und er hatte Lust auf gedankliche Abwechslung. Kein Kontokorrent, keine Bedienerführung, kein Programmdebugging, nur ein, zwei Flaschen Krostitzer, und vielleicht einen Nordhäuser, und ein bißchen quatschen über die Literaturszene der Stadt. Und über die neuesten Äußerungen des „Literaturministers“. Er sah aber niemanden, den er kannte, und er suchte sich einen Platz. Es war voll, und an einem der Tische sah er einen etwas merkwürdig gekleideten Mann mit Vollbart bei einem Kaffee, der in einem zerfledderten Buch las. Er trug einen quietschbunten, selbstgestrickten Pullover, ausgeblichene Jeans und „Jesuslatschen“ an den bloßen Füßen. Anton hatte ihn schon öfters im Café gesehen, und der originelle Habitus des Vollbärtigen hatte ihn stets beeindruckt. Von seinen Schriftstellerfreunden kannte ihn niemand, und Anton ordnete ihn in die Kunstszene der Stadt ein.
„Hier noch frei?“ fragte er ihn.
„Aber ja.“ Der Mann machte Platz auf dem Tisch, indem er einige EDV-Fachzeitschriften beiseite räumte, ausschließlich westliche. Gleich neben dem Café befand sich die Rechenstation der Universität.
„Ein Kollege, auch das noch!“ dachte Anton, aber er mußte ja kein Gespräch beginnen.
Anton bestellte ein Krostitzer und einen Nordhäuser. Er plauderte ein wenig mit der Bedienung, und die Serviererin bezog auch seinen Tischnachbarn in das Gespräch ein. Nun, im Café „Windmühle“ kannte man sich eben … Und so kam es, daß er mit dem Bärtigen bald in ein Fachgespräch verwickelt war. Es stellte sich heraus, daß er als Universitätsmitarbeiter auf dem Gebiet der theoretischen Informatik zur Künstlichen Intelligenz forschte. Für Anton hatte Informatik nichts Theoretisches, er kannte nicht einmal den Ausdruck. Für ihn waren Informatik und EDV immer etwas Konkretes und Meßbares, etwas, mit dem man zeitraubende und langweilige Routinearbeit einsparen konnte. Und über die Freisetzung lebendiger Arbeit durch Maschinen sprach in diesem Lande niemand, sie litten sowieso unter Arbeitskräftemangel. Der Bärtige erklärte ihm einen Algorithmus, über den er gerade nachdachte, und Anton verstand nur die Hälfte. Aber dann kamen sie auf Zeichenkettenanalysen zu sprechen, und da kannte er sich wieder aus. Es wurden am Ende drei Flaschen Krostitzer und zwei Nordhäuser, und als Anton nach Hause kam, hatte er einen Kleinen sitzen.
Anton arbeitete weiter an seinem Projekt, und er kam zügig voran. Aber das Gespräch mit dem Bärtigen ging ihm nicht aus dem Sinn. Er war nicht überheblich oder gar anmaßend gewesen, aber Anton hatte sich ein wenig über die abgehobene Geisteshaltung des Mannes geärgert, für den Buchhalter, Ökonomen, Projektanten und andere mit Zahlen befaßte Werktätige überhaupt keine Rolle zu spielen schienen.
„Künstliche Intelligenz? Ha – lachhaft!“ dachte Anton.
Als er mit der tüchtigen, aber etwas schnippischen Mitarbeiterin des Bereiches Ökonomie besprach, wie sie die Rechnungen aus dem Datenbestand heraussuchen könnten, die bezahlt werden sollten, kam ihm eine Idee. Er versprach der Ökonomin, daß sie immer die Möglichkeit haben würde, darüber selbst zu bestimmen. Er beendete das Gespräch und verabschiedete sich schnell. Die Kollegin wirkte etwas befremdet.
Anton beschloß, das Programm so zu gestalten, daß die Auswahl völlig automatisch ablaufen konnte. Antons Betrieb, der vor allem im Auftrag der Stadt ganze Straßenzüge im Leipziger Osten sanierte, hatte fast nie Geld zur Verfügung. Und wenn, dann war es gleich mal eine halbe oder eine dreiviertel Million. Die laufenden Rechnungen einer bestimmten Gruppe von Auftragnehmern, Privatunternehmer und Handwerks-Genossenschaften, wurden aus Sonderkrediten der Staatsbank beglichen. Ob ein Auftragnehmer zu jener Gruppe gehörte, konnte man an der Kontonummer erkennen. Das war also einfach. Und wenn irgend jemand aus der Leitungshierarchie wollte, daß eine bestimmte Rechnung auf jeden Fall beglichen werden sollte, dann mußte man eben die Nummer der Rechnung oder ein anderes Merkmal kennen. Anton spendierte seinem Programm drei Stufen der „Intelligenz“. Die höchste Stufe reservierte er für den Fall, daß eine halbe Million zur Verfügung stand – oder auch mehr.
Anton überführte das Projekt in die Praxis, und es gab keine Schwierigkeiten. Er saß oft mit Vera an ihrem Bürocomputer, um sie bei der neuen und ungewohnten Arbeit anzuleiten, denn er hatte auch diesen Teil des Projektes programmiert. Diese unmittelbare Nähe zu ihr, eine unabsichtliche Berührung ihrer Hände oder ein auf die Wange gehauchter Kuß taten ihm gut. Außerdem konnte er sich in ihrem abgelegenen Büro ein wenig vom Streß der vergangenen Monate erholen. Einmal lud sie ihn zum Kaffeetrinken zu sich nach Hause ein. Er nahm die Einladung an, und benutzte Überstunden als Ausrede vor seiner Frau. Der renitente Teenager aber ging ihm auf die Nerven, und Anton verabschiedete sich bald wieder. Vera sprach zwei Tage nur das Nötigste mit ihm. Dann kriegte sie sich wieder ein, und die Tage und Wochen verstrichen, und Anton änderte hier etwas, und er verbesserte da etwas. Sein nächstes Projekt, eine Datenbanksache für Ferienplätze, war noch nicht spruchreif. Aber die halbe Million hatten sie immer noch nicht zur Verfügung gehabt.
Es kam ganz unerwartet. Als Anton gerade Feierabend machen wollte, rief Manfred, der Operator der Spätschicht, an.
„Du, horche ma, de Ägonomie hat gesaacht, mir soll’n änne halbe Million überweisen. Weeßd Du da was d’rvon?“
Manfred war ein umsichtiger Kollege. Anton bat ihn zu warten. Er rief in der Ökonomie an. Aber die Kollegin war schon nicht mehr da. Anton war verärgert, denn er hatte sie gebeten, solche Anweisungen vorerst nur über ihn selbst zu erteilen. Er ging hinüber in die Rechenstation.
„Haste das schriftlich?“ frage er.
„Nee, die hadd bloß angerufen, und gesaachd, sie hädd’n nu ne halbe Million, und mir solln die ieberweisen“, sagte Manfred.
„Gib die halbe Million als Limit ein, und dann machste Stufe 3, und ab geht’s wie Schmidts Katze!“ rief Anton entschlossen.
Manfred grinste. Anton beobachtete, wie er stumm die Lippen bewegend die Nullen beim Eintippen des Limits abzählte, dann verabschiedete er sich und ging nach Hause. Er erwartete Besuch.
Gegen 21:30 Uhr, Antons Besuch war eben gegangen, klingelte es an der Tür. Anton ahnte nichts gutes, es war Manfred. Er war die Strecke mit dem Fahrrad gekommen, Anton hatte kein Telefon.
„Horche ma, das läuft immer noch! Was sollch’n mach’n? Ich habbe Feierahmd, Mensch!“ jappste er.
Anton dachte nach. Er konnte es nicht riskieren, den Vorgang abbrechen zu lassen.
„Laß es laufen. Mach das Licht aus und schließ’ ab. Ich bin morgen um sechs da.“
Manfred runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Aber dann ging er.
Am nächsten Morgen war Anton um sechs Uhr am Rechner. Das Programm war zum ordentlichen Ende gekommen, und laut Protokoll war der Prozeß bis 4:12 Uhr gelaufen. Anton war erschüttert. Er druckte die Überweisungslisten und den Überweisungsauftrag aus. Dann kopierte er die Clearingdatei auf ein Magnetband, und als die Hardwareleute kamen, um den Rechner einzuschalten und zu warten – „die Putze machen“ nannte Anton das – verließ er schnell die Rechenstation. Auf ihre erstaunten Fragen bekamen sie keine Antwort. In seinem Büro prüfte Anton die Drucklisten, aber er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Er schaute sich die Endsumme an. An der halben Million fehlten 28 Pfennige!
„Punktlandung“, murmelte Anton. Dann rief er Vera an. Er bat sie, die Rechnungsunterlagen bereitzulegen. Es gäbe Arbeit. Sie prüften jede einzelne Rechnung, und Vera strippte sie am Ende auf. Im Ergebnis kamen eine halbe Million und 43 Pfennige heraus. Anton stöhnte laut auf. Vera tippte alle Rechnungen noch einmal in die Addiermaschine, und dieses Mal stand auf dem Streifen dieselbe Summe wie auf Antons Liste. Sie atmeten auf, und Vera kochte Kaffee. Anton bedankte sich. Er umarmte Vera und versuchte sie auf die Wange zu küssen. Sie fühlte sich dabei seltsam steif an, so kannte er sie gar nicht. Als sie ihren Kaffee tranken, rückte sie demonstrativ von ihm weg. Anton runzelte die Stirn, aber er hatte wichtigeres im Kopf. Er wollte die Unterlagen und das Magnetband selbst in die Ökonomie bringen, und ein ernstes Wort mit der schnippischen Kollegin reden. Eine Woche später erfuhr er von der Kostenrechnung, daß Vera – endlich – einen neuen Freund hätte. Daß der aber verheiratet und Vater von vier Kindern war, wußte zu diesem Zeitpunkt niemand. Als diese Tatsache einigen Monate später ruchbar wurde, war Anton mit den Trümmern seiner eigenen Ehe beschäftigt, und er war als Tröster höchst ungeeignet. Zum Glück für ihn aber gab es Christa G. in seinem Leben …
Anton änderte in seinem Projekt ein paar Kleinigkeiten, und er baute einen weiteren Sortiergang ein. Als sie das nächste Mal eine halbe Million überweisen konnten, dauerte der Vorgang nur sechs Minuten und am Limit fehlten 33 Pfennige. Er hatte außerdem ein Formular für Überweisungswünsche entworfen, das von der Ökonomie ausgefüllt und abgestempelt worden war. Anton hat nie wieder versucht, ein Programm schlauer zu machen, als notwendig, auch wenn es möglich gewesen wäre.
© Leipzig, Jan. 2011